Agelaos, Schafhirte

Der sanfte Wind Zephyrs treibt das Treibholz vor sich her an die Küste. Zwischen den Kisten und Fässern und den Resten des einst schnellen stolzen Schiffes treibt auch ein Stück Papyrus auf den Wellen, dieser Brief wird wohl nie sein Ziel erreichen. Aber noch kann man die Schriftzeichen lesen, bevor sie für die Ewigkeit in Poseidons Reich gezogen werden.

“Meine Althaia

In tiefster Sehnsucht sitze ich hier an den Ufern des Meeres, das uns so grausam teilt. Fortgerissen von dir, liege ich seit Jahren hier einsam am Strand, deine Wärme, deine Nähe missend. Würde mir nur Hermes für eine Nacht seine Schuhe leihen, ich würde wahrlich alles geben, um zu dir heim zu eilen und sollte ich nicht schnell genug gewesen sein und ich beim ersten Sonnenstrahl nur dich vor unserer kleinen Hütte sitzen sehen, dann wäre es das trotzdem wert gewesen. 

Anfangs zählte ich noch die Tage und die Monate, doch inzwischen sind es Jahre, seitdem ich fortziehen musste. Der Tag hatte sich tief eingebrannt. Als ich auf dem Deck des Schiffes stand. Mit hundert Männern, Vätern, Brüdern stand ich da und winkte ans Ufer, wo wir alle euch ein letztes Mal erblicken durften, bevor euch der Horizont verschluckte. Hundert getrennte Liebende alleine auf meinem Schiff, um zwei Menschen zu vereinen, die füreinander nichts anderes übrig haben als Hass. 

Das kann doch nicht gerecht sein, das kann doch nicht der Wille der Götter sein. Erfreute sich Hera nicht an der Wärme unseres Herdes, erfreute sich Dionysos nicht an den Festen, die in unserem Haus stattfanden. Segnete Aphrodite nicht selbst unsere Liebe, wie sonst sollte ich erklären können, dass dein Gesicht stets das erste ist, was ich erblicke, wenn ich mich in Hypnos kalte Geborgenheit begebe.

Viele Jahre sind vergangen und wie am ersten Tag mischt sich das Salz meiner Tränen mit den Wellen des Meeres, wenn ich an dich denke. Wie am ersten Tag sitzen wir am Strand fest, und wie am ersten Tag stehen die Mauern Illios. Wir haben nichts erreicht außer dass die meisten meiner Freunde, nicht mal mehr die Hoffnung auf eine Heimkehr haben. Vergraben in fremder Erde. Keine trauernden Verwandten, die ihnen mit Tränen den Weg über den Styx erleichtern. An manchen Tagen ist mein Wunsch mich ihnen anzuschließen fast unerträglich groß, nur mein Wunsch, dich wieder zu sehen, dich in meine Arme zu schließen, noch einmal deine Lippen auf meinen zu spüren, ist größer.

Wenn du dies liest, dann lass mich frei. Halte mich nicht fest in deinem Herzen, denn es bringt dir nur Schmerz. Genieße das Leben so wie wir es gemeinsam getan hätten. Und falls ich jemals verunstaltet heimkomme, dann erlaube mir einen kurzen Blick auf dein Antlitz, welches von Lachfalten durchzogen sein wird und die Zeichen eines glücklichen, erfüllten Leben tragen wird. Nur aus der Ferne, auf den grünen Hügeln unserer Weiden werde ich zusehen wie du deine Familie behütest und umpflegst, so wie du es mit unserer gemacht hättest…”

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