Kategorie: Fantasy

Torben, Rübenbauer

Mit einem dumpfen Knacken spürte Torben, wie sich sein Unterkiefer vom Rest seines Schädels löste, der sich um 927° im Kreis drehte und scheppernd zu Boden fiel. Jetzt hatte er endlich wieder seine Ruhe. Klappernd fiel er in sich zusammen.

“Papa, Papa, komm schnell! Beim Herd raucht es schon!” hörte er seinen kleinen Engel aus der Hütte rufen. Er stand auf, klopfte seine dreckigen braunen Leinenhosen ab und schob sich den Strohhut zurück in den Nacken. Dann ging er zügig auf die kleine Kate zu, aus der er weitere Rufe hörte. Er duckte sich unter dem niedrigen Türstock durch und hängte den Hut an den Haken neben die Tür. Dann musste er husten, seine Tochter hatte nicht übertrieben, er rannte zum Herd und zog den brodelnden Topf zur Seite und stieß die Fensterläden auf, damit etwas Frischluft in die verrauchte Kammer kommen konnte. “Essen ist fertig!” sagte er etwas verlegen. Kochen war wirklich nicht seine Stärke. Hinter sich hörte er das Klappern von Tonschüsseln, die seine kleine Tochter auf den Tisch stellte. Er hievte den vollen Topf auf den alten Holztisch und fuhr mit der Kelle tief in den einfachen dünnen Rübeneintopf und rührte einmal um. Dann teilte er aus. Sofort stürzte sich die Kleine auf das Essen. “Mh Papa, das schmeckt heute schon viel besser!” sagte sie glucksend. “Danke?” sagte Torben, misstrauisch und verzog seine Augenbraue ein wenig. Der kleine Schelm vor ihm würde sicher noch etwas nachsetzen. Doch sie steckte bis zu den Ohren in ihrer Schüssel und schlürfte wie eine hungrige Katze die ganze Schüssel leer. “Also Papa, dein Rauchbrand-Eintopf mit Rüben ist wirklich der Beste.” sagte sie kichernd. Torben musste grinsen, als er eine tiefe Stimme in seinem Kopf hörte…

Er spürte wie sich sein Unterkiefer über den zerkratzten Steinboden zog und am Weg zu ihm mehrere Zähne aufsammelte. Das grüne Leuchten in seinen Augenhöhlen erkannte genau, dass es nicht nur seine eigenen waren. Er wollte nicht schon wieder die Zähne von Wenzel im Mund haben, die waren viel größer als seine und dann zwickte sein Unterkiefer immer. Wenigstens war es sein eigener Oberschenkel, der sich an seine Hüfte legte. Das Hinken blieb ihm wohl diesmal erspart. Konnte dieser Anfänger nicht endlich sein Latein verbessern?

Torben schnappte sich das schartige Schwert, das neben ihm lag und klopfte mit der freien Hand auf seinen Rippen. Er drehte sich zum Eingang der dunklen Kammer um, in der er stand und sah einen Hünen vor sich stehen, über 2 Meter groß und Oberarme wie Baumstämme, das würde wenigstens schnell gehen. Er stellte sich vor die anderen und ging auf den Riesen zu. Da sah er von oben den mächtigen Hammer auf sich niedersausen. Sein Genick knackte und sein Kopf löste sich von der Wirbelsäule und landete auf seinem Brustkorb, wie ein Basketball auf einem zu kleinen Ring bei einem Jahrmarktspiel. Die enorme Pranke dieses Berserkers legte nach und haute nochmal von oben drauf, woraufhin sein Kopf durch die Rippen brach und in einem Regen aus zersplitterten, gebrochenen Knochen am Boden zu liegen kam!

“Papa, ich….werde dich schrecklich vermissen!” “Ich dich auch, aber ich will, dass du dir Mühe gibst und brav lernst. Frau Krindler ist so nett und nimmt dich auf um dir viel beizubringen, dann musst du nicht auch dein restliches Leben verbrannte Rüben essen!” sagte Torben und hielt seiner Tochter den kleinen Ranzen hin, in dem ihre wenigen Sachen eingepackt waren. “Ich hab dich lieb, Papa!“ sagte sie mit feuchten Augen und umarmte ihn schnell, bevor er ihre Tränen sehen konnte. “Ich dich auch, mein kleiner Schelm und es ist ja auch nicht weit weg, nur ein paar Stunden, da kann ich dich oft besuchen kommen, wenn die Rüben erstmal wachsen und ich nicht so viel zu tun habe.” Tapfer lächelte sie ihn an, drückte ihn noch einmal, dann schnappte sie sich den Ranzen und ging den staubigen Pfad, weg von ihrem Zuhause in ihre Zukunft. Torben stand noch lange da und blickte ihr nach, auch als sie längst hinter der nächsten Kurve verschwunden war. Erst der beißende Geruch von Rauch, der aus der Hütte kam, holte ihn in die Realität zurück, doch noch bevor er die windschiefe Holztür aufmachen konnte, hörte er wieder eine tiefe Stimme in seinem Kopf.

“Verdammt nochmal es heist vivorum corporum und nicht vivum corpus!” dachte sich Torben. Das hatte inzwischen auch er kapiert in all den Jahren. Er konnte weder Lesen noch Schreiben, aber nach 100 Versuchen hätte auch er es gecheckt. “Bringen wir es hinter uns!” dachte sich Torben und stakte mit zwei verschieden langen Beinen auf den neuen Eindringling zu. Er bückte sich, um eine der alten verrosteten Waffen aufzuheben, die am Boden lag, doch er bekam sie nicht zu fassen. Erst da bemerkte er, dass an seinem Handgelenk gar keine Hand war, sondern nur ein halber Rippenknochen und auf der anderen Seite war überhaupt kein Arm, sondern ein Kopf, der direkt an seiner Schulter dranhing. Verdutzt starrte Torben ihn an. “Hallo?” “Oh, Hallo! Ich bin Rhab, ich bin der Neue!“ hörte er eine tiefe Stimme aus dem lippenlosen Mund kommen. “Freu mich sehr, willkommen in dieser Amateur-Show, aber du wirst sehen….MOMENT bist du nicht der riesige Saftsack, der mir vorher den Brustkorb pulverisiert hat?” Diese grinsenden Zähne hatte er sofort wieder erkannt. “Ja, also…..tut mir leid?” sagte der Kopf an seiner Schulter nervös lächelnd. “Hat dir ja nicht viel gebracht, mich so zuzurichten, wenn du jetzt selber hier bist!” sagte Torben wütend. Er hatte die kleine Gestalt, die er vorher am Eingang erblickt hatte, inzwischen komplett vergessen. “Wie gesagt…tut mir leid!” sagte der Kopf. Torben näherte sich der Wand und drückte das Gesicht an seiner Schulter gegen die grob geschlagenen Steine, dann lief er die Wand entlang. Steinbrocken und Zähne fielen zu Boden. “UPSI, das tut mir jetzt aber leid, wie konnte das denn passieren.” Da biss sich der Kopf auf einmal in der Wand fest und Torben rannte selber mit vollem Karacho in die Steinwand.

“Papa? Jetzt komm schon, es warten schon alle!” Da stand seine Kleine in einem traumhaft weißen Kleid. „Ja, tut mir leid, aber du siehst einfach zu schön aus, um nicht vor Stolz und Freude ein wenig zu weinen!” sagte Torben lächelnd und nahm seine Tochter bei der Hand. Gemeinsam schritten sie durch das kleine Steinportal in die Kapelle, wo schon die anderen warteten. Langsam gingen sie durch den Mittelgang. Er drückte ihre Hand und küsste sie auf die Wange. “Ich bin so stolz auf dich, du hast wirklich nichts anbrennen lassen und was aus deinem Leben gemacht!” flüsterte er ihr ins Ohr und übergab ihre Hand, bevor er sich an den Rand stellte und die tiefe Stimme in seinem Kopf hörte.

Sein Kopf lag noch auf dem staubigen Boden, genau vor ihm die grün leuchtenden Augenhöhlen dieses Barbaren. “Hey, sind wir quitt?” fragte Torben. Torben wusste zwar nicht, wie das ohne Lippen ging, aber der Schädel vor ihm lächelte und zappelte leicht. Das war wohl ein Nicken. “Willkommen in der Ewigkeit! Man gewöhnt sich an die dauernde Wiederauferweckung! Und die kurzen Pausen, wenn man mit seinen Gedanken und Erinnerungen alleine ist, sind wunderschön! Du wirst es lieben, so wie ich! Das ist das Reawakening!”

Gudrun, Lederer-Meisterin

Die Glocke läutete. Beim ersten Mal setzte Gudrun noch einmal das scharfe Messer an dem Stück Leder an. Sorgsam fuhr sie die Kreidemarkierung entlang. Die Glocke läutete zum zweiten Mal. Genau dem weißen Strich folgend schnitt die feine Klinge durch das Edle Stück Hirschleder. Das dritte Mal hallte die Glocke durch die engen Gassen und breiten Straßen der kleinen Stadt. Nur keinen Zentimeter des kostbaren Rohstoffes verschwenden, so hatte es Gudrun vor 30 Jahren das erste Mal von ihrem Lehrmeister gehört und so tat sie es auch. Der vierte Glockenschlag erfüllte die ruhige, friedliche Stadt und brach sich an der Stadtmauer. Magistra Krindler würde zufrieden sein mit den neuen Lederstiefeln, dachte sich Gudrun und nahm eine der Ahlen zu Hand. Doch zu mehr als einem Loch zu bohren kam sie nicht. Denn da tönte der fünfte Schlag, der Feierabend verkündende Schlag der Glocke, durch das winzige Butzenglasfenster in ihre kleine Werkstatt. Jetzt würde nur mehr die Arbeitsschürze ausgezogen, einmal schnell Gesicht und Hände in dem kleinen Lavur gewaschen, die Werkstatt versperrt werden und sie würde auf schnellstem Weg in die kleine Wirtschaft machen, wo sie sich die meisten Abende mit den anderen Meistern ihrer Zunft vertrieb. Die Glocke erklang zum sechsten Mal. “Ist es etwa schon so spät? Habe ich das letzte Läuten nicht bemerkt?” fragte sich Gudrun. Ihre Freunde würden schon auf sie warten. Da konnte sie sich wieder dumme Sprüche anhören lassen, heute würden die Scherze also auf ihre Kosten gehen, dachte sie schmunzelnd.

Da läutete die Glocke zum siebten Mal.Gudrun blieb wie angewurzelt stehen, draußen war es doch noch hell, so spät konnte es nicht sein. Zum achten Mal erklang die Glocke. Zum neunten Mal. Da erst realisierte sie die Rufe und die Schreie draußen auf der Lederergasse vor ihrer Werkstatt. Zum zehnten Mal bohrte sich das dumpfe Schlagen der großen Stadtglocke in Gudruns Gehör. Sie ging raus aus dem Haus auf die Gasse und schaute die Häuserschlucht entlang bis zum Hauptplatz, auf dem sie schon mehrere Leute emsig auf und ab laufen sah. Das elfte Mal brannte sich ein. Die Fröhlichkeit der ersten Glockenschläge, die das Ende eines geschäftigen und arbeitsreichen Tages angekündigt hatten, war verflogen, jetzt klang es viel bedrohlicher. Da sah sie Alrik an der Gasse vorbeilaufen, der sonst so lustige fröhliche Bäckergeselle schaute ganz grimmig, auch war er nicht in weiß gekleidet sondern trug ein Lederwams, Gudrun kannte es genau, sie hatte es ihm geschenkt. Die Hände noch mit Mehlstaub und Teigresten verdreckt krallten sich um den langen Stab seines Speeres. 

Das Dutzend vollmachen erschallte die Glocke und riss Gudrun aus der Trance. Das alles konnte nur eines bedeuten, der Krieg hatte sich also doch noch in ihr kleines Tal zu ihrer Stadt verirrt. Lange waren sie verschont geblieben, aber anscheinend sollte sie jetzt doch das Schicksal der anderen Ortschaften ereilen.

Das dreizehnte Läuten war wie ein Startschuss. Jährlich hatten sie es geübt. Im ersten Sommerwochenende war jedes Jahr, das große Gildenschießen gewesen. Jede Gilde und Zunft musste zur Parade aufmarschieren und zeigen, das ihre Mitglieder vom Meister bis zum Lehrling bereit waren die Stadt zu verteidigen. Das war meistens einfach nur ein großes Besäufnis gewesen, aber der Ernstfall war eingedrillt worden. Beim 14 Schlag schlüpfte Gudrun auch schon in ihr bereitliegendes Lederwams und ihre kunstvollen Armschienen, sie hatte es sich nicht nehmen lassen und extra viel Liebe ins Detail gesteckt, schließlich wollte man beim Gildenschießen den Schmieden in nichts nachstehen. Beim fünfzehnten Schlag schnappte sie sich Speer und Dolch. Sie warf noch einen kurzen Blick zurück in ihre kleine Werkstatt, wo sie werkte, schuf und lebte. Doch der sechzehnte Schlag holte sie in die Realität zurück. Mit dem siebzehnten fiel die Tür ins Schloss und Gudrun rannte, sich im Laufen erst die Schnallen schließend, in Richtung Nordtor. Sie betrat den Hauptplatz, als ihr der achtzehnte Schlag das Gehör zerriss. Sie drehte sich um nach der großen goldenen Glocke, die den Stolz und Reichtum ihres Zuhauses zur Schau stellen sollte. Doch die Glocke die dort hängen sollte lag zerbrochen auf dem Turm. Etwas war dort eingeschlagen. Mit Tränen in den Augen sah sie wie diese Meisterstück zerstört auf der ruinenhaften Spitze des Glockenturm lag. Langsam bröckelten die ersten Stücke des Mauerwerks und zerplatzen am Pflaster des Hauptplatzes. Dann ging alles ganz schnell. Die rechte Flanke des Turmes gab nach und gleich darauf stürzte der Turm in sich zusammen. Eine Hand packte sie an der Kapuze und zog sie nach hinten. Sie stolperte, fiel und landete in Armen. Sie drehte sich um. Alrik. Genau in dem Moment schlug ein Trümmerteil ein Loch genau in die Stelle wo sie eben noch stand.

“Wer kümmert sich denn um den Westturm des Tores, wenn du dich schon hier erschlagen lässt?“ “ Als ob auf die anderen Lederer verlass wäre!” sagte er schelmisch grinsend. “M…Mach du dir mal lieber Gedanken um den Ostturm, weil…also ihr Bäcker…ihr seid, ich meine auch schlecht!”

“Also deine Schlagfertigkeit hat nicht unter dem kleinen Unfall hier gelitten, die ist so schlecht wie eh und je!” sagte Alrik lachend und zog Gudrun auf die Beine. Ihr Blick fiel auf sein altes verschlissenes Wams. Sie sah die vielen Schnitte auf ihm. Alrik war nie ein großer Kämpfer gewesen und hatte bei den Gildenschießen oft eine ordentliche Tracht Prügel kassiert. Es war damals ihr Meisterstück gewesen und sie hatte es ihm geschenkt. Ein Zeichen ihrer Freundschaft hatte es sein sollen, aber die gelangweilten Hausfrauen und Männer, die sich den Tag mit nicht als Plausch und Tratsch vertrieben, hatten daraus eine große Liebesgeschichte gesponnen. Die war auch erst nicht mehr Stadtgespräch gewesen, als Alrik endlich geheiratet hatte. Und selbst dann bekam sie noch über Wochen wehleidige Blicke und Mitleidsbekundungen. Dabei hatte sie ja gar nicht heiraten wollen, erst Recht nicht Alrik. Der verrückte Schelm hätte sie nach 2 Wochen zum Ausrasten gebracht. Ein guter Freund allemal, aber als Mann ein absolutes Trauma.

“Gudrun, schwing deinen Arsch hier rauf, du hast Ladedienst an Ballista!” tönte es vom Mauerturm herunter. An der Mauer selber sah sie schon die anderen ihrer Zunft stehen. Die Gesellen in Wams und Schild, neben den Meistern mit ihren teuren und kunstfertig gearbeiteten Rüstungen, dahinter die Lehrlinge mit Bogen und Armbrust. “Das Frühstück morgen geht auf mich!” verabschiedete sich Alrik zuversichtlich grinsend und verschwand im anderen Turm. Hätte sie ihn nicht so gut gekannt hätte sie die Angst in seinen Augen fast nicht erkannt. Sie hetzte die Treppe im Turm hinauf, atemlos erklomm sie die oberste Ebene. An der Balliste standen schon Franzi, die beste Schützin unter ihnen, und Lori, beide fast starr vor Angst. Da erst fiel Gudruns Blick auf die Ebene vor der Stadt und sie tat es den beiden gleich. Hinten wo die frisch geernteten Felder in den Wald überging standen Tausende und Abertausende von gerüsteten Kriegern. Als sie die ganze Linie abgewandert war mit ihrem Blick schätzte sie die Meute auf knappe zehn tausend. Mehr als doppelt so viele wie hinter diesen Mauern lebte. Mehr als viermal so viele wie jetzt bereit standen um ihr kleines ruhiges und beschauliches Leben zu beschützen und zu verteidigen. Vor der Meute stand ein großes metallenes Konstrukt, in Rauch gehüllt. Das musste diese neue Maschinerie sein, von der die fahrenden Händler immer wieder erzählt hatten. “Es ist tatsächlich die Meute des Barons. Ich habe es nicht glauben können, aber er kämpft anscheinend wirklich gegen unseren Herzog.” flüsterte Lori. Gudrun hörte nicht wirklich zu. Die Politik war ihr immer zu blöd gewesene. Sie zahlte ihre Steuern und im Gegenlass wollte sie einfach nur in Ruhe gelassen werden um ihr Leben zu leben. Ihr war egal welches Gesicht gerade auf der Münze zu sehen war, wer sich Baron nennen durfte und wer Herzog. Warum sich diese Leute nie selber prügelten sondern das immer Leute wie Gudrun und ihre Freunde machen mussten, war niemandem bei der Ballista klar. Aber jetzt würden sie es wohl tun müssen. 

Doch für mehr politische Gedanken und Ärgern war keine Zeit, denn die Meute setzte sich in Bewegung. Mehrere Hörner erschallten von dem fremden Heerzug und kurz darauf lief die erste Reihe auch schon auf die Mauer zu. In ihren Händen Leitern und allerlei brutal aussehendes Kriegsgerät. Gudrun starrte noch wie gebannt auf die Menschenwelle, die sich auf ihre Mauer hin ergoss, da spürte sie einen Luftzug und sah im Augenwinkel etwas aufblitzen. Panisch wich sie zur Seite, da schoss der große Pfeil auch schon mit voller Wucht an ihr vorbei. Franzi hatte anscheinend als erstes ihre Fassung zurückgewonnen und den ersten armen Hund ausgesucht, der von ihr unter Beschuss genommen wurde. Wie in Zeitlupe verfolgte Gudrun das Geschoss mit ihrem Blick. Franzi hatte sich für einen großen hühnenhaften Mann in voller Eisenrüstung entschieden, der das vordere Ende einer Leiter hielt und an vorderster Front voran stürmte. Der meterlange Pfeil durchschlug die oberste Leitersprosse und drang unbehindert durch den Brustpanzer in die Schulter des Mannes ein. Der Schmerzensschrei des Ziels ging im Kriegsgeheul seiner Kameraden unter, als sich der Pfeil hinten wieder aus dem Körper bohrte und den Mann wie eine Landkarte auf einer Pinnwand auf dem fruchtbaren Boden vor der Stadt befestigte. Das war also Krieg. Die schiere Brutalität erschreckte Gudrun, doch für Panik und Entsetzen war jetzt keine Zeit. Mit einem lauten Knarzen zogen Franzi und Lori schon die Balliste auf. Jetzt war es an Gudrun am Morden teilzunehmen und die schweren metallenen Pfeile nachzuladen. Auf dass deren zerstörerische Wirkung den Gegner verängstigte oder gar demoralisierte. Der Haken, der das gespannte Seil hielt, lockerte sich erneut und ein weiterer Pfeil surrte todbringend durch die Luft. Doch diesmal riss er mehr als nur einen Angreifer um und verwickelte die beiden in deren eigenen Todeskampf. Inzwischen hatten aber die Ersten die Mauer erreicht und machten sich an die großen massiven Eichenholzleitern gegen die Mauer zu lehnen und sich in die Höhe zu hangeln. Doch am Ende der Leiter warteten schon die Speerspitzen von Gudruns Freunden und schickten die feindlichen Söldner wieder nach unten an den Fuß der Mauer oder direkt in die Hölle.

Minuten später färbte sich das Gras an der Mauer langsam rot und die Schmerzensschreie der Verwundeten nahmen Überhand und erfüllten die Luft. Welle um Welle an Angreifern brandete gegen die hohen Steinmauern und brach sich an den Schwertern der Stadtbewohner und den Pfeilen der Jungen. Draußen vor der Stadt lagen hunderte Tote und nochmal genauso viele Verwundete, die in Agonie schrien und wimmerten. Als sie die Mauer entlang blickte, sah sie ihre Freunde Bekannte noch fast vollzählig da stehen, wenn das so weiterging, dann hatten sie tatsächlich eine Chance. Es überkam sie fast ein wenig Euphorie als sie den letzten der Pfeile schnappte und ihn eingespannte. Ein letztes Mal konnte Franzi noch der ausgedünnten Angriffsfront eine erhebliche Lücke schlagen, wenn der Angriff abgeebbt war, konnte man Nachschub besorgen, von den Türmen die bisher nicht bestürmt worden war. Da wanderte ihr Blick in Richtung Wald, über die vielen Toten und Verletzten und die ganze Pfeile die wie Speere im Boden steckten. Da fiel ihr Blick auf diese Maschine. Sie stand nicht mehr im Rauch, sie war jetzt viel näher. “Warte Franzi, das Ding, schieß auf das Ding!” wollte Gudrun schreien, doch da löste sich schon der Pfeil von der Sehne und schnellte ein letztes Mal übers Schlachtfeld. Wie gebannt starrte Gudrun und ihre Freunde auf den metallenen Schlund, der zum Stillstand gekommen war und auf einmal Feuer spuckte. Ein lauter, donnernder Knall hallte über die Stadt hinweg und verschluckte für einen Moment sämtliche Schmerzensschreie und alles Gebrüll. Es war als wäre für einen Moment wieder Frieden über das kleine Städtchen gekommen. Dann kam der Aufprall.

Die Mauer erzitterte. Eine Druckwelle raubte ihr den Atem und sie verlor das Gleichgewicht und stürzte zu Boden. Ihre Ohren klingelten und ihr Blick war ganz verschwommen. Sie lag da, starrte in den Himmel und spürte, wie eine warme Flüssigkeit ihr übers Gesicht und den Kopf lief. Dann verlor sie endgültig das Bewusstsein. Das nächste was sie sah, war der Sternenhimmel, tiefschwarz sah sie die Unendlichkeit des Universums vor sich liegen und der silbrig kalte Glanz der schimmernden Sterne leuchtete auf sie hinab. Sie griff sich an den dröhnenden Kopf. Als sie sich kratzte bröselte das getrocknete Blut wie Schuppen von ihrer Haut. Sie richtete sich auf. Von dem Turm fehlte die halbe Brüstung und mehr als ein Drittel der Plattform. Langsam robbte sie sich an den Rand. Sie blickte zur Mauer, doch dort wo die Mauer sein sollte, erhob sich nur ein Trümmerfeld. Franzi und Lori lagen dort unten, halb unter der Balliste und dem halben Turm begraben. Seite an Seite mit den anderen Einwohnern der Stadt. An einem größeren Trümmerfeld lehnte einer der Feinde. Seiner Rüstung nach zu urteilen wohl ein Hauptmann oder so. Mit verschränkten Armen beobachtete er die anderen, die in die Stadt gingen oder sie verließen, mit jeder Menge Plündergut. Als eine einfachere Soldatin mit Fackel in der Hand vorüber ging, fiel ihr Blick auf seine Arme. “Diese Armschienen….die kenne ich doch, die habe ich doch erst letzten Monat an die alte Jole, von der Keltererzunft verkauft!” dachte sich Gudrun bevor sie die Übelkeit überkam. Der Anblick ihrer toten Freunde und der Gedanke an ihre geplünderte Heimat gepaart mit den Verletzungen waren einfach zu viel und sie erbrach sich. Ihr fehlte die Kraft um sich noch umzudrehen und konnte nur Stumm das Gefühl ertragen wie sich ihr Mageninhalt über ihren Rumpf ergoss. Doch der Ekel wich schnell einem schlimmeren Gefühl der Einsicht, als sie das rötliche Schimmern von Blut im Licht der Sterne erkannte. Lange würde es wohl nicht dauern, bis sie sich ihren Freunden anschließen würde. Bei jeder Bewegung knarzte und krachte der halbzerstörte Turm unter ihr.

Auf einmal hörte sie unter sich Aufregung. “Macht Platz! Der Baron kommt wieder vorbei.” “Gefällt ihm etwa nicht mehr die Ruine, die wir auf seinem Geheiß erschaffen haben?” sagte die Person in den geraubten Armschienen leicht zynisch. “Was weiß ich? Es ist mir doch egal, was der feine Pinkel möchte, solange er mich bezahlt!” tönte die erste Stimme schon leicht lallend. Da drang das ruhige Stampfen von Pferdehufen, die sich den Weg über die Leichen und den blutgetränkten Straßen der Stadt hinweg bahnten. Gudrun zog sich mit aller Kraft auf die Brüstung, ihre Beine gehorchten ihr nicht und hingen schlaff an ihrer Hüfte. Sie selbst erinnerte sich an das Wild, das sie sonst bei den Gerbern sah, wenn es zum Enthäuten aufgehängt wurde. Der Turm unter ihr schwankte bedrohlich. Viel würde nicht fehlen und auch der Rest des einst stolzen Mauerbaus würde sich dem Trümmerfeld in der Optik anschließen.

Das Pferd hielt bei den unten stehenden Männern. Es war tatsächlich der Baron. Neben ihm stand wohl sein Sohn, denn stolz trug er die selben Wappen wie sein Vater, der auch seine Hand patronisierend auf seiner Schulter ruhen ließ. “Wir haben es tatsächlich geschafft!” tönte die starke Stimme des Barons über die Trümmerhaufen und durch die brennenden Gassen.

“Zwanzig Jahre ist es her. Hier in diesem gottverdammten Kaff wurde ich damals gezwungen niederzuknien. Es war die Glockenweihe und das nachfolgende Turnier, bei dem er mich vor dem gesamten Hofstaat aus dem Sattel hob und arrogant mir die Hand entgegenstreckte um mich noch mehr zu demütigen.” schimpfte der Baron. “Aber diese Schmach haben wir heute gerächt. Wir haben seine Länder verwüstet, seine Städte geschliffen und heute Nacht habe ich auf seine geliebte Glocke gepisst!” lachte er triumphierend. “Bald kniet er vor mir und bettelt um Gnade, dann wird der König mich zum Herzog erheben und du mein Sohn”, er tätschelte dem Knaben die Schulter “wirst unsere Familie zu weiterem Ruhm führen!”

Hätte Gudrun noch Blut im Körper übrig gehabt, es wäre ihr jetzt zu Kopf gestiegen. Eine Niederlage im Turnier? Deswegen brannte ihre Stadt, deswegen lagen die Leichen ihrer Freunde auf den Straßen. “Ich hoffe das Pissen war befriedigend!” brüllte Gudrun mit allem Atem, der noch in ihr steckte. “Du kleine, dreckige, stinkende…” Da gab die letzte Stütze des Turmes endgültig nach und Gudrun stürzte mit dem Rest des Turmes genau auf den Baron hinab. Sie hörte das schmerzvolle Wiehern des edlen Rosses, das ebenso wie sein Reiter von Trümmern geschlagen wurde. Gudrun hörte ihre Knochen brechen, doch das Gefühl hatte längst ihren Körper verlassen. Sie vermochte sich nicht mehr zu bewegen, doch merkte sie, dass sie wohl mit dem Kopf auf der Brust des jungen Adelsspross lag, im Augenwinkel, wo sein zarter Bartflaum sein sollte, sah sie nur einen blutverschmierten Steinbrocken. Ihr Sichtfeld wurde kleiner, die schwarzen Ränder breiter. Da sah sie, wie sich der Baron zu ihr herunterbeugte und sie mit einer Hand am Kragen packte. Sein anderer Arm hing schlaff herab. Er schien irgendwas zu schreien, doch als er erblickte, worauf sie lag, wich die Wut in seinem Gesicht, erst Angst und dann Trauer. Er sank zu Boden, Gudrun immer noch in seiner Hand. “Ich hoffe, das war es dir Wert!” erklang Gudruns Stimme ein letztes Mal auf dieser Welt. Eine erste Träne tropfte von den Wangen des Barons auf die ihren, doch das bekam sie schon nicht mehr mit.