Schlagwort: liebe

Gerd, Küchenjunge

Der Schweiß rann Gerd über die heiße Stirn und hinterließ einen Film auf seiner Haut, in dem sich die Flammen spiegelten, die vor ihm in der breiten Nische loderten und die über ihr hängenden Haut bräunten bis das Fett in die Flammen tropften.

“Ich habe dir heute schon drei mal gesagt, du sollst verdammt nochmal aufpassen! Der Löffel in deiner Hand ist dazu da, um das Fett aufzufangen, bevor es ins Feuer tropft! Sonst schmeckt sowohl die Sau schlecht, als auch das gute Schmalz geht verloren!” 

“Ja, tut mir leid!” antwortete Gerd schüchtern, als er auch schon die Hand des Küchenchefs am Hinterkopf spürte. “Vielleicht merkst du es dir damit!” hörte man die Stimme des Küchenchefs nochmal durch die geschäftige Küche hallen, gemeinsam mit dem Schall einer saftigen Gnackwatschen. “Und schafft mir den verdammten Winzer mit seinem Wein her, heute Abend, zum Geburtstagsfest seiner Tochter, wird ihre Majestät nicht enttäuscht werden!” brüllte der beleibte Koch weiter. Gerd drehte weiter den schweren Spieß, der samt Spanferkel über den Flammen brutzelte, als er auf einmal fürchterlich gähnen musste. Eine ungehörige Müdigkeit überkam ihn und lehnte sich nur für den Hauch eines Momentes gegen die Steinmauer. 

Als er seine Augen wieder öffnete, war es dunkel. Warum brannte das Feuer nicht mehr und die Kerzen, die sonst die verrauchte Küche erhellten? Es war sogar etwas frisch, so kalt war es noch nie in der Küche gewesen. War er bei der Arbeit umgefallen und hatte man ihn zu den Ställen gebracht, wo er und die anderen Knechte sonst nächtigten? Er drehte den Kopf und merkte, wie furchtbar verspannt er im Nackenbereich war. Auch seine Arme und Beine reagierten nicht, sondern fingen erstmal an furchtbar zu kribbeln und zu jucken. Langsam gewöhnten sich seine Augen an das Dunkel im Raum. Doch, er war sich ganz sicher, das war die Küche, doch vor den zwei Fenstern wuchs irgendein Grünzeug und verdunkelte den Raum. Da hörte er auch das Stöhnen aus anderen Kehlen. “Alles ok? Kann mich wer hören?” rief Gerd ängstlich. “Was ist hier los?” doch bisschen mehr als ein wortloses Gemurmel und Aufatmen konnte er nicht verstehen. Gerd blickte seinen Körper entlang nach unten. So langsam reagierte auch sein Arm wieder. Er drückte gegen den kalten Steinboden, doch spürte er erst einmal eine weiche, wattige Schicht auf seinen Handflächen. War das etwa Staub? Aber doch nicht hier in der Küche, Sauberkeit war seinem Meister wichtig gewesen. Die ersten 5 Monate seines Dienstes hatte er nur wenig anderes gemacht als durch die Küche zu fegen. Seine Wirbel knackten, als er sich aufrichtete und sich langsam auf die Füße wuchtete. Sein Blick wand sich um zur Feuerstelle. Die Sau hing noch immer am Spieß. Auf der Unterseite war sie schwarz, komplett verkohlt, auf der Oberseite war sie von einer Schicht grün-weißen Schimmel überzogen. Er spürte eine kalte, schwere Hand auf seiner Schulter. Erschrocken drehte er sich um. “WAS IST HIER PASSIERT?” fragte ihn der Küchenchef, Spinnweben hingen ihm im Bart. “Ich habe keine Ahnung!” antwortete Gerd panisch.

Gerd blickte sich um, die Pflanzen vor den Fenstern schienen weniger geworden zu sein. Auf jeden Fall war jetzt wesentlich mehr Licht im Raum. Er schnappte sich eine Kerze und fummelte in der Tasche seiner Schürze nach einem Schwefelhölzchen und zündete sie an, dann ging er langsam aus der Küche in die Gänge und Flure des Schlosses. Überall war es dasselbe Bild. Staub soweit das Auge reicht, alle Fackeln heruntergebrannt, Spinnweben in jedem Eck und überall reckten und streckten sich Menschen wie nach einem langen Schlaf. Er eilte durch die Stockwerke, doch keiner konnte ihm eine Antwort geben. Erst als er im obersten Stockwerk zur Treppe zum höchsten Turm kam, stolzierte ihm ein junger Mann in prächtigen Kleidern die Treppe hinunter entgegen. Die eine Hand am Knauf seines Schwertes, die andere geleitete die Prinzessin die Stiegen hinunter. Sie bemerkten Gerd gar nicht, so sehr waren sie mit sich selbst beschäftigt und ihrem gegenseitigen Anlächeln. Grob wurde Gerd zur Seite geschubst. “Oh, welch Freude, du hast unsere Tochter und uns alle aus unserem Schlaf gerettet.” hörte er des Königs Stimme durch den Gang hallen. “Hundert Jahre haben wir auf euch gewartet.” 

Gerd verstand nicht ganz, was hier vor sich ging. Hatte der König gerade von hundert Jahren gesprochen? Gerds Gedanken rasten. Sie hatten geschlafen? Hundert Jahre? “Meine Mutter!” schoss es Gerd durch den Kopf. Er hatte ihr heute Morgen noch was zum Essen gegeben, bevor er in die Arbeit aufgebrochen war. Sie war ja auf ihn angewiesen, hatte ja sonst niemanden, der sich um sie kümmern konnte. Er drehte sich um und rannte die langen Gänge entlang, die er vorher noch vorsichtig durchkämmt hatte. Mit jedem Satz nahm er mehrere der Treppen auf einmal und brach krachend durch die morschen, vermoderten Türflügel des großen Eingangstores. Er hetzte über den Schlosshof und zwängte sich durch die verrosteten Gitterstäbe des großen Fallgatters. Vor ihm war eine riesige, dichte Dornenhecke, doch das spielte für Gerd keine Rolle. Mit geschlossenen Augen kämpfte er sich durch das Gestrüpp. Die Dornen zerkratzen seine Arme und Brust und rissen ihm die letzten Reste seines zerlöcherten Hemd vom Leib. Schwer atmend und aus vielen Kratzern blutend kam er auf der anderen Seite der Dornenwand in den dichten Wald. Seine Füße flitzten über den kalten Waldboden, immer wieder stolperte er in der Dunkelheit der Nacht über Wurzelwerk und Unterholz, als endlich die kleine Kate vor ihm auftauchte. Das Dach war eingestürzt. Mit Tränen in den Augen betrat er sein Zuhause, in dem er geboren und aufgewachsen war. Seine Augen brauchten lange, bis sie sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, aber als er endlich was erkannte, wünschte er sich, sie hätten sich nie daran gewöhnt. Er blickte auf die Überreste seiner Mutter. Von ihrem Bett führte eine Schleifspur bis zur Tür des Vorratsraum. Seine Mutter hatte schon Wochen davor nicht mehr das Bett verlassen, weil sie zu schwach war, aber anscheinend hatte sie sich in ihrer Verzweiflung bis zur Tür gekämpft, die dann eine unüberwindbare Barriere darstellte. Die Tränen liefen über Gerds Wange. Unbändige Trauer überkam ihn, die erst wich, als sie der Wut Platz machte, die sich in seinen Eingeweiden ausbreitete. Gerd wusste nicht, was passiert war, aber der König hatte es gewusst, der hätte verhindern können, dass seine Mutter so elendig verhungern musste. Aber anscheinend hatte er es nicht gewollt. Gerds Mutter war es nicht wert gewesen. Voller Zorn drehte sich Gerd um und ging den Weg zurück, nicht so eilig hastend wie vorher, sondern mit einer ruhigen, unheilvollen Entschlossenheit. Halbnackt, blutend und mit Tränen im Gesicht stand er wieder vor dem Schloss. Grimmig zog er das große Fleischmesser aus seinem Gürtel. Die Klinge war rostig. “Aber zum Abstechen von einer Sau, wird es schon noch gut genug sein!” flüsterte Gerd, als er auf das rostige Gitter zu stampfte. Auf den Treppen vor der Halle saß Helene, der schlichte Verlobungsring auf ihrem Finger war ganz verfärbt, sie lehnte mit dem Kopf an der Brust des Stalljungen, der wohl versuchte im Trost eine Ablenkung von seinem Sohn zu finden, von dessen Geburt er noch heute früh allen stolz erzählt hatte. Die Tränen auf Gerds Wangen wurden immer mehr. Er betrat die große Halle, dort stand er. 

Der alte König, seine Königin, in dem einen Arm, am anderen seine Tochter, vor ihnen der fesche Prinz. Lautes glückliches Lachen schallte ihm entgegen. “Natürlich dürft ihr sie heiraten, doch wo bleibt denn der Koch oder die anderen Diener. So ein Freudentag gehört doch gefeiert!” Da fiel sein Blick auf Gerd, der halbnackt und blutig in der Tür stand. Langsam, Schritt für Schritt ging Gerd ihnen entgegen, der Griff um sein Messer wurde fester. Verdutzt schauten ihn die Vier an. Nur noch ein Schritt trennte Gerd vom König, der sich zwischen ihn und seine Familie gestellt hatte. Da fiel das Messer klappernd zu Boden.

“Wenigstens für euch ist es ein Freudentag!” sagte Gerd emotionslos und ging in Richtung der Küche und ließ die königliche Familie sprachlos zurück. Er schnappte sich den Besen, der neben der kleinen Tür lehnte und begann zu fegen, während seine Tränen auf den kalten Steinboden tropften.

Und wenn er nicht gestorben ist, dann lebt er auch noch heute.

Torben, Rübenbauer

Mit einem dumpfen Knacken spürte Torben, wie sich sein Unterkiefer vom Rest seines Schädels löste, der sich um 927° im Kreis drehte und scheppernd zu Boden fiel. Jetzt hatte er endlich wieder seine Ruhe. Klappernd fiel er in sich zusammen.

“Papa, Papa, komm schnell! Beim Herd raucht es schon!” hörte er seinen kleinen Engel aus der Hütte rufen. Er stand auf, klopfte seine dreckigen braunen Leinenhosen ab und schob sich den Strohhut zurück in den Nacken. Dann ging er zügig auf die kleine Kate zu, aus der er weitere Rufe hörte. Er duckte sich unter dem niedrigen Türstock durch und hängte den Hut an den Haken neben die Tür. Dann musste er husten, seine Tochter hatte nicht übertrieben, er rannte zum Herd und zog den brodelnden Topf zur Seite und stieß die Fensterläden auf, damit etwas Frischluft in die verrauchte Kammer kommen konnte. “Essen ist fertig!” sagte er etwas verlegen. Kochen war wirklich nicht seine Stärke. Hinter sich hörte er das Klappern von Tonschüsseln, die seine kleine Tochter auf den Tisch stellte. Er hievte den vollen Topf auf den alten Holztisch und fuhr mit der Kelle tief in den einfachen dünnen Rübeneintopf und rührte einmal um. Dann teilte er aus. Sofort stürzte sich die Kleine auf das Essen. “Mh Papa, das schmeckt heute schon viel besser!” sagte sie glucksend. “Danke?” sagte Torben, misstrauisch und verzog seine Augenbraue ein wenig. Der kleine Schelm vor ihm würde sicher noch etwas nachsetzen. Doch sie steckte bis zu den Ohren in ihrer Schüssel und schlürfte wie eine hungrige Katze die ganze Schüssel leer. “Also Papa, dein Rauchbrand-Eintopf mit Rüben ist wirklich der Beste.” sagte sie kichernd. Torben musste grinsen, als er eine tiefe Stimme in seinem Kopf hörte…

Er spürte wie sich sein Unterkiefer über den zerkratzten Steinboden zog und am Weg zu ihm mehrere Zähne aufsammelte. Das grüne Leuchten in seinen Augenhöhlen erkannte genau, dass es nicht nur seine eigenen waren. Er wollte nicht schon wieder die Zähne von Wenzel im Mund haben, die waren viel größer als seine und dann zwickte sein Unterkiefer immer. Wenigstens war es sein eigener Oberschenkel, der sich an seine Hüfte legte. Das Hinken blieb ihm wohl diesmal erspart. Konnte dieser Anfänger nicht endlich sein Latein verbessern?

Torben schnappte sich das schartige Schwert, das neben ihm lag und klopfte mit der freien Hand auf seinen Rippen. Er drehte sich zum Eingang der dunklen Kammer um, in der er stand und sah einen Hünen vor sich stehen, über 2 Meter groß und Oberarme wie Baumstämme, das würde wenigstens schnell gehen. Er stellte sich vor die anderen und ging auf den Riesen zu. Da sah er von oben den mächtigen Hammer auf sich niedersausen. Sein Genick knackte und sein Kopf löste sich von der Wirbelsäule und landete auf seinem Brustkorb, wie ein Basketball auf einem zu kleinen Ring bei einem Jahrmarktspiel. Die enorme Pranke dieses Berserkers legte nach und haute nochmal von oben drauf, woraufhin sein Kopf durch die Rippen brach und in einem Regen aus zersplitterten, gebrochenen Knochen am Boden zu liegen kam!

“Papa, ich….werde dich schrecklich vermissen!” “Ich dich auch, aber ich will, dass du dir Mühe gibst und brav lernst. Frau Krindler ist so nett und nimmt dich auf um dir viel beizubringen, dann musst du nicht auch dein restliches Leben verbrannte Rüben essen!” sagte Torben und hielt seiner Tochter den kleinen Ranzen hin, in dem ihre wenigen Sachen eingepackt waren. “Ich hab dich lieb, Papa!“ sagte sie mit feuchten Augen und umarmte ihn schnell, bevor er ihre Tränen sehen konnte. “Ich dich auch, mein kleiner Schelm und es ist ja auch nicht weit weg, nur ein paar Stunden, da kann ich dich oft besuchen kommen, wenn die Rüben erstmal wachsen und ich nicht so viel zu tun habe.” Tapfer lächelte sie ihn an, drückte ihn noch einmal, dann schnappte sie sich den Ranzen und ging den staubigen Pfad, weg von ihrem Zuhause in ihre Zukunft. Torben stand noch lange da und blickte ihr nach, auch als sie längst hinter der nächsten Kurve verschwunden war. Erst der beißende Geruch von Rauch, der aus der Hütte kam, holte ihn in die Realität zurück, doch noch bevor er die windschiefe Holztür aufmachen konnte, hörte er wieder eine tiefe Stimme in seinem Kopf.

“Verdammt nochmal es heist vivorum corporum und nicht vivum corpus!” dachte sich Torben. Das hatte inzwischen auch er kapiert in all den Jahren. Er konnte weder Lesen noch Schreiben, aber nach 100 Versuchen hätte auch er es gecheckt. “Bringen wir es hinter uns!” dachte sich Torben und stakte mit zwei verschieden langen Beinen auf den neuen Eindringling zu. Er bückte sich, um eine der alten verrosteten Waffen aufzuheben, die am Boden lag, doch er bekam sie nicht zu fassen. Erst da bemerkte er, dass an seinem Handgelenk gar keine Hand war, sondern nur ein halber Rippenknochen und auf der anderen Seite war überhaupt kein Arm, sondern ein Kopf, der direkt an seiner Schulter dranhing. Verdutzt starrte Torben ihn an. “Hallo?” “Oh, Hallo! Ich bin Rhab, ich bin der Neue!“ hörte er eine tiefe Stimme aus dem lippenlosen Mund kommen. “Freu mich sehr, willkommen in dieser Amateur-Show, aber du wirst sehen….MOMENT bist du nicht der riesige Saftsack, der mir vorher den Brustkorb pulverisiert hat?” Diese grinsenden Zähne hatte er sofort wieder erkannt. “Ja, also…..tut mir leid?” sagte der Kopf an seiner Schulter nervös lächelnd. “Hat dir ja nicht viel gebracht, mich so zuzurichten, wenn du jetzt selber hier bist!” sagte Torben wütend. Er hatte die kleine Gestalt, die er vorher am Eingang erblickt hatte, inzwischen komplett vergessen. “Wie gesagt…tut mir leid!” sagte der Kopf. Torben näherte sich der Wand und drückte das Gesicht an seiner Schulter gegen die grob geschlagenen Steine, dann lief er die Wand entlang. Steinbrocken und Zähne fielen zu Boden. “UPSI, das tut mir jetzt aber leid, wie konnte das denn passieren.” Da biss sich der Kopf auf einmal in der Wand fest und Torben rannte selber mit vollem Karacho in die Steinwand.

“Papa? Jetzt komm schon, es warten schon alle!” Da stand seine Kleine in einem traumhaft weißen Kleid. „Ja, tut mir leid, aber du siehst einfach zu schön aus, um nicht vor Stolz und Freude ein wenig zu weinen!” sagte Torben lächelnd und nahm seine Tochter bei der Hand. Gemeinsam schritten sie durch das kleine Steinportal in die Kapelle, wo schon die anderen warteten. Langsam gingen sie durch den Mittelgang. Er drückte ihre Hand und küsste sie auf die Wange. “Ich bin so stolz auf dich, du hast wirklich nichts anbrennen lassen und was aus deinem Leben gemacht!” flüsterte er ihr ins Ohr und übergab ihre Hand, bevor er sich an den Rand stellte und die tiefe Stimme in seinem Kopf hörte.

Sein Kopf lag noch auf dem staubigen Boden, genau vor ihm die grün leuchtenden Augenhöhlen dieses Barbaren. “Hey, sind wir quitt?” fragte Torben. Torben wusste zwar nicht, wie das ohne Lippen ging, aber der Schädel vor ihm lächelte und zappelte leicht. Das war wohl ein Nicken. “Willkommen in der Ewigkeit! Man gewöhnt sich an die dauernde Wiederauferweckung! Und die kurzen Pausen, wenn man mit seinen Gedanken und Erinnerungen alleine ist, sind wunderschön! Du wirst es lieben, so wie ich! Das ist das Reawakening!”

Agelaos, Schafhirte

Der sanfte Wind Zephyrs treibt das Treibholz vor sich her an die Küste. Zwischen den Kisten und Fässern und den Resten des einst schnellen stolzen Schiffes treibt auch ein Stück Papyrus auf den Wellen, dieser Brief wird wohl nie sein Ziel erreichen. Aber noch kann man die Schriftzeichen lesen, bevor sie für die Ewigkeit in Poseidons Reich gezogen werden.

“Meine Althaia

In tiefster Sehnsucht sitze ich hier an den Ufern des Meeres, das uns so grausam teilt. Fortgerissen von dir, liege ich seit Jahren hier einsam am Strand, deine Wärme, deine Nähe missend. Würde mir nur Hermes für eine Nacht seine Schuhe leihen, ich würde wahrlich alles geben, um zu dir heim zu eilen und sollte ich nicht schnell genug gewesen sein und ich beim ersten Sonnenstrahl nur dich vor unserer kleinen Hütte sitzen sehen, dann wäre es das trotzdem wert gewesen. 

Anfangs zählte ich noch die Tage und die Monate, doch inzwischen sind es Jahre, seitdem ich fortziehen musste. Der Tag hatte sich tief eingebrannt. Als ich auf dem Deck des Schiffes stand. Mit hundert Männern, Vätern, Brüdern stand ich da und winkte ans Ufer, wo wir alle euch ein letztes Mal erblicken durften, bevor euch der Horizont verschluckte. Hundert getrennte Liebende alleine auf meinem Schiff, um zwei Menschen zu vereinen, die füreinander nichts anderes übrig haben als Hass. 

Das kann doch nicht gerecht sein, das kann doch nicht der Wille der Götter sein. Erfreute sich Hera nicht an der Wärme unseres Herdes, erfreute sich Dionysos nicht an den Festen, die in unserem Haus stattfanden. Segnete Aphrodite nicht selbst unsere Liebe, wie sonst sollte ich erklären können, dass dein Gesicht stets das erste ist, was ich erblicke, wenn ich mich in Hypnos kalte Geborgenheit begebe.

Viele Jahre sind vergangen und wie am ersten Tag mischt sich das Salz meiner Tränen mit den Wellen des Meeres, wenn ich an dich denke. Wie am ersten Tag sitzen wir am Strand fest, und wie am ersten Tag stehen die Mauern Illios. Wir haben nichts erreicht außer dass die meisten meiner Freunde, nicht mal mehr die Hoffnung auf eine Heimkehr haben. Vergraben in fremder Erde. Keine trauernden Verwandten, die ihnen mit Tränen den Weg über den Styx erleichtern. An manchen Tagen ist mein Wunsch mich ihnen anzuschließen fast unerträglich groß, nur mein Wunsch, dich wieder zu sehen, dich in meine Arme zu schließen, noch einmal deine Lippen auf meinen zu spüren, ist größer.

Wenn du dies liest, dann lass mich frei. Halte mich nicht fest in deinem Herzen, denn es bringt dir nur Schmerz. Genieße das Leben so wie wir es gemeinsam getan hätten. Und falls ich jemals verunstaltet heimkomme, dann erlaube mir einen kurzen Blick auf dein Antlitz, welches von Lachfalten durchzogen sein wird und die Zeichen eines glücklichen, erfüllten Leben tragen wird. Nur aus der Ferne, auf den grünen Hügeln unserer Weiden werde ich zusehen wie du deine Familie behütest und umpflegst, so wie du es mit unserer gemacht hättest…”