Schlagwort: non-rom

Jack, Privatdetektiv

Sanft gleiten die Eiswürfel an der Glasinnenseite entlang. Ich spüre die Kälte inzwischen schon an meinen Fingern, wenn ich jetzt noch länger warte, dann ist mein Whiskey endgültig verwässert. Gedankenverloren nehme ich einen Schluck. Das altbekannte Brennen in meiner Kehle passt zu dem Brennen in meiner Brust. Dieses Brennen, das mich nicht mehr loslässt. Der kleine Billy Brosner, immer noch vermisst, weil ich diesen Fall nicht lösen konnte. Starr blicke ich auf die Unterlagen auf meinem Schreibtisch, als könnte ich sie mit meinem Blick zwingen mir ihr Geheimnis zu verraten. Ich spüre den Zorn in mir brodeln, die Wut in mir aufsteigen, die Enttäuschung über mich selber, über mein Eigenes Versagen. Ich schlucke alles mit einem Schluck Whiskey runter. Beim Dritten klappt es sogar. „Na los, WO IST BILLY!“ möchte ich die Zeitungsausschnitte, Befragungsnotizen und geklaute Privatkorrespondenz anschreien, die ich in den letzten Tagen und Wochen zusammen gesammelt habe. Stattdessen hebe ich meinen Kopf, lasse das Whiskeyglas in meiner Schreibtischschublade verschwinden und spreche möglichst gefasster Stimme „Herein!“. Da klopft es an der Tür, aber meinem geschulten Auge ist der Schatten vor dem Spalt unter der Tür natürlich nicht entgangen. Die Tür öffnet sich und ein kleiner Junge steht mit verweinten Augen im Eingang zu meinem kleinen, schäbigen Büro. Er schnieft laut und kommt hinein. Als er in den Lichtkreis meiner Lampe kommt erkenne ich seine rot geweinten Augen. „Bitte, Mister, Billy war mein bester Freund, ich habe von meiner Omi zu meinem Geburtstag einen ganzen Dollar bekommen, den gebe ich ihnen, wenn sie ihn wiederfinden.“ Ich hätte auf meine Schwester hören sollen als sie mir damals sagte „Scheiß auf den großen Schreibtisch und die Goldenen Lettern an deiner Tür, wenn du ein Büro hast, brauchst du eine Sekretärin!“ Dann würden mir solche emotionalen Momente erspart bleiben, die könnte solche Leute abfangen, bevor sie zu mir kommen. „Hier, das hat mir Billy geschenkt, kurz bevor er verschwand!“ Der kleine Junge reicht mir eine Zeichnung. Ich kann nicht von mir behaupten, dass ich selber ein großer Künstler wäre, aber dieses Gekritzel ist ja wohl wirklich schirch. Ich bedanke mich bei dem Kleinen und setze ihn nett aber bestimmt vor die Tür. Dann widme ich mich der Zeichnung. Vor der Tür höre ich ein Schluchzen. Na gut, vielleicht war ich doch etwas bestimmter als netter.

Beim Schreibtisch angekommen hole ich mein Whiskeyglas hervor und schenke mir ein. Dann inspiziere ich die Zeichnung genauer. Also bei dem was ich da sehe, da würden sich selbst Eltern schwer tun, beim Lügen, ob der Qualität der Zeichnung. Das große Schwarze könnte ein Haus sein, und dieser graue Fleck direkt drüber könnte eine Statue sein. Wirkt fast wie eine dieser Fledermausdekostatuetten wie die im alten Hiller-Haus, das seit Jahren leer steht. Ich blicke auf die Uhr. 17:29. Da könnte ich heute noch schnell vorbeifahren, bevor ich Feierabend mache. Ich hole meinen Revolver aus der Schreibtischlade und stecke ihn in mein Holster. Dann schnappe ich mir noch meine Taschenlampe und meine Schlüssel. Als ich aus dem Haus komme, bläst mir der starke Wind den Regen ins Gesicht. In den letzten Tagen hat es begonnen zu herbstln. Ich gehe hinaus ins Wetter. Ich hätte heute früh auf meine Frau hören sollen, als sie mir sagte „Du wirst sehen, heute schlägt das Wetter endgültig um, zieh besser die festen Schuhe an!“ Stattdessen spüre ich, wie sich meine Socken mit Feuchtigkeit vollsaugen, schon beim dritten Schritt. Ich stelle meinen Mantelkragen auf und kämpfe mich durch das Wetter in Richtung des alten Villenviertels, in dem das Hiller-Haus steht. Die ersten Blätter fegt es von den Bäumen und mir entgegen. Da höre ich hinter mir kurz eine Polizei-Sirene aufheulen.

Genervt verdrehe ich die Augen. „Guten Abend Jim!“ sage ich zu dem dicklichen Polizist, der gerade aus seinem Auto steigt und auf mich zu geht. „Für dich immer noch Sergeant O’reilly! Was haben wir denn da unter dem Mantel? Ich hoffe, du hast einen Ausweis für die Knarre!“ Ich nicke nur wortlos und greife zu meinem Portmonaie. Ich hätte auf meine Lehrerin, Fräulein Frink, damals hören soll als sie mir sagte „Die Polizei ist Freund und Helfer, sie verdienen unseren Respekt und Freundlichkeit.“ Stattdessen darf ich 20 Minuten lang sämtliche Ausweise vorweisen und Erklärungen abgeben, bis Sergeant O’reilly wieder bereit ist, mich in Ruhe zu lassen. Ich denke, dass hat man davon wenn man einmal im Lokalblatt ein Interview gibt und die Polizei als inkompetent bezeichnet.

Als ich endlich beim Hiller-Haus ankomme gehen gerade die Straßenlaternen an. Ich drücke die rostige Gartentür auf und spüre wie eine Gänsehaut über meinen ganzen Rücken wandert bei dem Quietschen. So im Halbdunkel blickt das Haus richtig auf mich herab. Wie ein riesiges Monument thront es über mir. Kurz zweifel ich ob ich wirklich heute noch mich hier umsehen sollte, doch die Möglichkeit diesen Fall voranzubringen ist einfach zu verführerisch. Ich trete über den Steinpfad zum Haus, das feuchte Gras, dass sich durch die Steinplatten gekämpft hat, quatscht unter meinen Füßen. Ich hole meine Taschenlampe raus und leuchte durch die halb verfallene Eingangstür ins Haus hinein. Sofort fällt mein Blick auf den staubigen Boden auf dem ich kleine Schuhabdrücke erkennen kann. Das Knarzen der Dielen hallt durchs ganze Haus als ich das erste Mal meinen Fuß innerhalb der alten Gemäuer absetze. Ich merke wie mein Atem schneller wird. Das Knarzen jetzt gerade war ich aber nicht. Oder doch? Der Lichtkegel meiner Taschenlampe wandert über vermoderte Tapetenwände, zerfallene Vorhänge und verrostete Lampen und Kerzenhalter. Abrupt hören die Schuhabdrücke auf. Ein zarter Windhauch streicht über mein Gesicht, das nass ist vom Regen und von Schweiß. Da erkenne ich kleine eingetrocknete Tropfen am Boden. Ich gehe in die Knie, rot, eindeutig Blut. Da spüre ich einen Tropfen auf meiner Schulter, kurz darauf tropft einer auf meine Hand mit der Taschenlampe. Zähflüssig, weißlich-durchsichtig. Speichel? Meine andere Hand wandert unter meinen Mantel, ich spüre den vertrauten Griff des Revolvers zwischen meinen Fingern. Ein weiterer Tropfen diesmal genau in meinem Nacken. Ich lass mich nach hinten auf den Boden fallen und blicke nach oben. Ein weit aufgerissenes Maul mit Tausend Zähnen blickt mir entgegen. Schreiend richte ich meine Pistole darauf und drücke ab und drücke ab und drücke ab und drücke ab. Das helle Klicken als der Hahn auf eine leere Klammer trifft besiegelt mein Schicksal. Ich hätte auf meine Tochter hören sollen, als sie mir heute morgen sagte: „Und dann, nach der Arbeit, Papa, da kommst du dann ganz schnell heim und dann zeige ich dir, was ich in der Schule gelernt habe!“

Jean-Baptiste, Kriegsversehrter

Mit einem hellen Klingen zerplatzte der Regentropfen auf Jean-Baptistes Helmkante und spritzte in Richtung Boden, wo er sich mit der Suppe verband, die sich in den letzten Stunden zu seinen Füßen gebildet hatte. Braun und matschig war sie zuerst nur einige Zentimeter hoch gewesen, aber jetzt schwappte sie mit jedem vorbei eilenden Kameraden noch ein Stück höher und umspielte schon seine Unterschenkel. Es war vielleicht erst wenige Minuten her gewesen, vielleicht auch schon eine Stunde, als die ersten Tropfen bei seinen Knöcheln eine Schwachstelle in seinen Stiefeln gefunden hatten und sich einen Weg zu seinen Socken gebahnt hatten. Seine Zehen waren inzwischen eiskalt und er spürte, wie aufgequollen seine Haut inzwischen war, wenn er sie aneinander rieb. Sein müder Blick starrte in diese kalte, nasse Brühe, als könnte er darin einen Sinn für das alles erkennen. Aber er fand keinen. Eine Erschütterung erfasste ihn und zauberte kleine verspielte Wellen auf dem Wasser. Schwer hob er seinen Blick und sah über die Erdkante drüber, die sich vor ihm erhob, als ihm auch schon die ersten Erdklumpen entgegen prasselten. Er hörte noch das Pfeifen, das sie in den Unterstand treiben sollte, aber er konnte einfach nicht mehr, und eigentlich wollte er auch nicht mehr.

“Das ist unfair, immer fängst du mich, das sage ich Mama!” Jean-Baptiste wurde aus seinen Gedanken gerissen. Die frühsommerliche Luft füllte seine Lungen, als er tief einatmete und die Erinnerungen abschüttelte. Vor ihm liefen mehrere Kinder in dem kleinen Park umher, in dem er sich gerne ein wenig niederließ und sich erholte, wenn er es so weit schaffte. Mit einem traurigen Lächeln sah er der Rasselbande beim Fangen spielen zu, die sich jedesmal so schnell wieder vertrugen, wie sie sich in die Haare kriegten. Die warme Sonne schien ihm ins Gesicht, das wäre einer dieser Momente, an dem die Zeit stehen bleiben würde, sämtliche Lasten würden für einige Augenblicke von seinen Schultern fallen und er wäre einige Atemzüge einfach nur glücklich. Aber etwas fesselte ihn im Hier und Jetzt. Jean-Baptiste spürte dieses etwas nur allzu gut. Der stechende Schmerz in seinen Beinen ließ sich nicht von Kinderlachen, nicht von Sonnenschein und auch nicht von frühsommerlicher Luft vertreiben. Der ließ sich von gar nichts vertreiben. Seit er und der Schmerz sich an diesem verregneten Tag in den Gräben der Somme gefunden hatten, seitdem war er sein ständiger Begleiter gewesen. Er war sein Begleiter gewesen, als er Etienne im Stacheldraht hinter sich lassen musste. Als er Marc hustend und spuckend an ein kleines Loch in der Gasmaske verloren hatte, war er bei ihm gewesen. Der Schmerz war immer da. Bereitwillig und schnell füllte er jede Lücke, die dieser Krieg in Jean-Baptistes Leben gerissen hatte. Und als die Granate sein Bein zerriss, als es keine Nerven mehr gab, die hätten schmerzen können, als das Fleisch nur mehr tot an seinen zersplitterten Knochen hing, auch da ließ ihn der Schmerz nicht allein. Jean blickte auf, die große Uhr am Parkrand zeigte 5 Uhr. Er strich sich über seinen Oberschenkel und griff sich seine Krücken. Mit verbissenen Gesicht hievte er sich hoch und humpelte langsam auf den Ausgang des Parks zu.

Da rempelte ihn von hinten etwas an und er stürzte. Sein Schmerzensschrei erfüllte den Park und scheuchte die Singvögel auf, die gerade um ein paar Brotkrumen stritten.

“Mo…Monsier..Es….es tut mir leid?” hörte er die ängstliche Stimme eines kleinen Mädchen in seinem Rücken. Mit der Kraft seiner Arme drehte sich Jean-Baptiste um und blickte in ein Gesicht, in dessen Augen schon das Wasser stand. “Bitte verzeiht, ich wollte das nicht!” setzte das Mädchen noch an, als auch schon die ersten Tränen die Wangen hinunterflossen. Jean hob sein verdrehtes Bein und richtete es. Dann strich er dem Mädchen tröstend über die Schulter. “Das ist doch kein Grund zum Weinen. Wenn man so schön und lustig mit seinen Freunden spielt, dann kann sowas doch schon mal passieren!” sagte er ruhig und griff nach seiner Krücke. “Du spielst ja hier oft mit deinen Freunden fangen, oder?” fragte er so fröhlich wie es das Stechen und Brennen in seinen Beinen zuließ. Das Mädchen nickte schniefend. “Ich würde ja auch gerne mal wieder fangen spielen, aber ich glaube bei euch habe ich keine Chance!” Das Mädchen musste lächeln. “Na schau, schon lächelst du schon wieder, wie die Sonne heute, hilfst du mir auf?” Das Mädchen nickte und zog mit aller Kraft an Jean-Baptistes Arm. Als er wieder stand griff er wieder in seine Tasche und holte zwei Münzen hervor. “Na dann solltest du mal los zu deinen Freunden und holt euch davon ein paar Bonbons, aber teile sie mit deinen Freunden, denn nichts ist wichtiger als gute Freunde.” “Danke Monsieur, habt ihr auch Freunde, mit denen ihr Bonbons teilt?” fragte das Mädchen neugierig. “Ja, einen Freund habe ich!” sagte Jean und drehte sich um. “Trefft ihr den auch jeden Tag?” rief ihm das kleine Mädchen noch hinterher. “Ja, jeden Tag!” sagte Jean-Baptiste leicht melancholisch.

Jean kämpfte sich die Treppen nach oben in sein kleines Apartment. Er setzte sich an den wackeligen Tisch und zog eine kleine Holzkiste zu sich. Er öffnete sie und holte den Orden heraus, der ihm verliehen worden war, nach seiner Verwundung. Wie gerne würde er dieses Stück Blech gegen ein paar Minuten ohne Schmerzen tauschen. “Wir sind wohl für immer aneinander gebunden!” sagte Jean fatalistisch grinsend und holte ein Foto heraus, das ihn und seine Kameraden an dem Tag zeigte, als sie das erste Mal in die neuen Uniformen gesteckt worden waren. Auf der Rückseite waren allzu viele Kreuze und Daten geschrieben. Jetzt war es seine Wange, von der die Tränen tropften. Er holte ein weiteres Foto raus. Sanft strich er mit dem Daumen über die Wange der darauf abgelichteten Dame. Direkt daneben lag ein Brief. Viele der Wörter waren schon verlaufen, es waren nicht die ersten Tränen, die wohl dieses Papier trafen. “…es hat leider nicht sein sollen….du wirst trotzdem immer einen besonderen Platz in meinen Erinnerungen haben…”. Jeans zittrige Hand griff erneut in die Holzkiste. “Bring den Boche Manieren bei!” seine Finger glitten über den Schriftzug, den sein Vater in den Griff des Revolvers geschnitzt hatte, bevor er damals aufgebrochen war. Sein Blick fiel auf den Orden. “Folgst du mir auch dorthin?”

Rico, Mobster

Wie in Zeitlupe glitt Ricos Blick über den Garten. Die Abendsonne schien auf die Szenerie herunter und tauchte alles in freundliches rötliches Licht und verlieh dem Abend ein wenig angenehme Spätsommerwärme. Ein Sonnenschirm lag im Gras, der Zweite trieb gleich neben Freddy im Pool. Die letzten Sonnenstrahlen spiegelten sich in den Glasscherben, die auf der Terrasse verteilt lagen, in Lacken von Martini und Prosecco. Rico lehnte sich gegen den umgeworfenen langen Holztisch und rutschte zu Boden. Sein Rücken hinterließ eine feuchte, rote Spur auf dem sündhaft teuren Mahagoni. 

Schmerz zierte sein Gesicht, als er mit dem Hintern auf dem Boden aufsetzte. Die Kraft verließ seinen rechten Arm und der Griff seiner Hand um die Pistole wurde locker. Er atmete schwer, als er in seine Brusttasche fasste, um sein Handy herauszuholen. Das Display war ganz verschmiert vom Blut, das langsam aber sicher seine Kleidung tränkte. Ohne das sein Handy reagierte, fuhr er mit seinen rot gefärbten Fingern über die zersplitterte Glasscheibe. Er lächelte bitter und blickte auf Freddy, der mit dem Rücken nach oben im Wasser schwebte. “Du hast es wohl schon hinter dir, alter Freund!” murmelte er leise und versuchte sich an die Gebete zu erinnern, die ihm seine Großmutter eingebläut hatte, als er noch ein unschuldiger kleiner Junge gewesen war. Doch weiter als “der du bist im Himmel” kam er nicht. “geheiligt werde dein Namen…” hörte er da auf einmal neben sich eine helle Stimme.

Mit aller Kraft, die er noch in sich hatte, wendete er seinen Kopf und blickte in ein verbissenes Frauengesicht. Sie hockte neben ihm hinter dem schweren Holztisch und führte sein Gebet fort. Rico versuchte sich zu erinnern, woher er sie kannte, oder wer sie war. Und warum sie zwei Uzis in den Händen hielt. Aber seine Erinnerungen verschwommen und gerade die letzten Minuten waren nur ein einziges Weiß. Heute waren alle zum Grillen beim Boss eingeladen, so viel wusste er noch. Aber danach war alles irgendwie nur ein stechender Schmerz, der alles andere überdeckte. “Warst du auch zum Grillen eingeladen?” fragte Rico und hustete ein wenig. Er schmeckte Blut im Mund, lange würde er sich wahrscheinlich nicht mehr solche Fragen stellen müssen. “Ich habe mich selbst eingeladen!” hörte er sie antworten. Rico wusste, wie er jetzt hätte reagieren müssen. Anscheinend war sie es gewesen, die hier so gewütet hatte. Er müsste jetzt seine Pistole wieder fest ergreifen und Freddy und sich rächen, um seinen Boss zu beschützen. Aber ihm fehlte die Kraft.

“Schade, das hätte ein netter Abend werden können!“, sagte Rico und versuchte mehr Druck auf seine Flanke auszuüben, während das Blut durch seine Finger ran. Die Frau neben ihm lächelte nicht ob seiner Bemerkung, sondern streckte die Hand über den Tisch und drückte den Abzug, dass Rico fast das Hören verging. Als das Klingeln in seinen Ohren nachgelassen hatte, hörte er ihre Stimme. “…Schulden, deswegen musste er sterben. Und diese Rechnung wird dein dreckiger Boss bezahlen.” Tränen rannen ihre Wangen runter, während sie erneut den Abzug drückte und feuerte, bis ein Klicken ihr leer geschossenes Magazin verriet. Sie ließ sich neben Rico nieder. Es war ruhig. Zu ruhig, das wusste Rico. Hätte die Frau nicht ihr Ziel erfüllt, dann würden jetzt Kugeln in den Tisch einschlagen und er würde die wütenden Rufe seines Bosses hören, der sie herumkommandierte.

Er spürte ihre Haare an seiner Wange, als sie auf einmal ihren Kopf an seine Schulter lehnte und er sie schluchzen hörte. “Jonny, warum musstest du dich mit ihnen einlassen!” weinte sie. Rico ließ seine Brust los und sofort quoll frisches hellrotes Blut aus den Wunden. Er hob seine Hand und fasste ihre. “Jetzt habe ich nichtmal mehr dich..!” Ihr Blick fiel auf die blutige Hand, die versuchte, sie zu trösten, dann auf das Chaos, das um sie herum herrschte. “Und bin selber zu einer Mörderin geworden!” Sie begann zu hyperventilieren. “Ich bin kein bisschen besser als diese Schweine!” schrie sie schon fast. Rico zog sie zu sich, packte ihr Gesicht und zwang sie mit seiner restlichen Kraft, dass sie ihn an blickte. “ES WIRD LEICHTER, DER SCHMERZ WIRD SCHWÄCHER UND DU BIST NICHT WIE WIR, WIR HABEN SOWAS VERDIENT!” Dann spuckte er Blut, es hatte ihn alles an Kraft gekostet. Ganz ruhig sah sie ihn an, Überraschung und Dankbarkeit in ihren verheulten Augen. “Und jetzt mach, dass du hier wegkommst, wenn nicht gleich die Polente auftaucht, dann der Rest von uns.” Sie stand auf und lief auf den Gartenzaun zu. “Stimmt das?” fragte sie. Rico nickte und dachte sich: „Nein, es wird nie leichter und der Schmerz bleibt, aber ja, wir haben es verdient!”

Manny, Sachbearbeiter

Mit einem ohrenbetäubenden Aufheulen hallte die Sirene durch die Gänge und Hallen. “Bitte bleiben sie ruhig! Folgen sie der Markierung! Verlassen sie geordnet, aber zügig über die Ihnen zugewiesenen Notausgänge das Gebäude!” 

Irene stand auf und richtete ihre Uniformjacke. Zwei Schritte rückwärts und eine Drehung nach links. Schon stand sie in der langen Schlange ihrer Mitarbeiter die sich jetzt zügig auf die große schwere Doppeltür zu bewegte, auf der das große “Notausgang! Nur im Ernstfall benutzen!”-Schild prangte. Hundert grau-schwarze Mützen bewegten sich durch dieses Portal und die Treppen herunter. 

“Das Gebäude wird geräumt! Nehmen sie nicht ihre persönlichen Gegenstand mit!” hallte die blecherne Stimme über die Sirene hinweg. Auch wenn keiner tuschelte oder was sagte, so konnte Irene die Aufregung und Verunsicherung der Massen spüren. Schon war sie die ersten Treppen runter gestiegen, als ihr der kaum wahrnehmbare Geruch von Rauch in die Nase stieg und ihre Mundwinkel leicht nach oben gingen. Sie sah schon die Plattform, auf der sie und ihre Kollegen aufs Durchzählen und die Durchführung des restlichen Protokolls warten würden.

Da spürte sie einen starken Arm, der sich unter ihren Schob. “Die Abteilungsleitung braucht sie!” hörte sie eine dominante Stimme, die keinen Widerspruch duldete. Da sah sie auch auf der anderen Seite eine grimmige Person in schwarzer Uniform. Sie zogen sie aus der Schlange und der Rest bewegte sich weiter. Sie passierten eine Tür und befanden sich auf einmal in einem langen leeren Gang. Der Griff um ihre Arme wurde stärker. Sie hoben sie einfach hoch und schleiften sie über den gebohnerten Boden. Nach einigen Metern warfen sie Irene zu Boden.

“Sabotage ist Hochverrat! Hochverrat wird nicht geduldet!” hörte sie noch einmal die kräftige Stimme. Stumm kniete Irene auf dem Boden und blickte in ihr triumphierend lächelndes Gesicht. Sie würde sich nicht die Blöße geben und um ihr Leben zu betteln, sie wusste, dass das keinen Sinn hatte. Dafür hatte sie zu viele Berichte gelesen, Anfragen abgestempelt und Dokumente archiviert. Sie würde sich stark und ungebrochen in die lange Liste der Opfer dieses Regimes einreihen. 

Sie roch den Rauch, sie sah ein Lächeln, Manny hörte einen Knall.

Manny war als einer der ersten auf der Plattform angekommen, war zu seinem Brandschutzgruppenbeauftragten gegangen und hatte seine Dienstnummer angegeben, dann hatte er sein MoBV-Gerät (Mobiles-Bürokratie-Verwaltungs-Gerät) herausgenommen und sich wieder dem Antrag 27/III (Nachschubanfrage für Feld-Behelfsmittel) gewidmet und hatte es auf Korrektheit überprüft. “Stattgegeben, Unterschrift des KpGru-Kom (Kampf-Gruppenkommandant) aus Anfrage 27/II übernommen” schrieb er gerade unter das Dokument als ein Knall ihn aufblicken lies. Ein Mann in weißer Uniform schritt gerade aus dem Gebäude und sprach in ein Megaphon. “Wir gratulieren zum erfolgreichen Bestehen der Feuer-Alarmprobe mit simulierter Rauchentwicklung. Die Evakuierungszeit war um 4,7 Sekunden schneller als bei der letzten Überprüfung und liegt um 6,2 Prozent unter dem staatsweiten Durchschnitt! Kehren sie jetzt zu ihrer Arbeit zurück!”

Der erste auf der Plattform ist der letzte wieder im Büro. Manny kannte das Prozedere, in den 52 Jahren seiner Dienstzeit hatte er das alles schon exakt 155 mal durchgemacht, nur vor 12 Jahren hatte ihn ein 2-tägiger Krankenstand von der angekündigten Probe ferngehalten. Als Manny wieder das Büro betrat, waren alle anderen Plätze schon besetzt. Nur einer war leer. Manny nahm auf seinem Stuhl Platz und entsperrte sein BV-Gerät (Bürokratie-Verwaltungsgerät) und synchronisierte es mit seinem MoBV-Gerät. “Sie übernehmen die Aufgaben ihrer Kollegin, ihr Versetzungsantrag zur Front wurde stattgegeben” hörte Manny auf einmal eine kräftige Stimme. “Hier sind die Zugangsdaten! Nötige Überstunden sind bewilligt!” fuhr der Mann in schwarzer Uniform fort und reichte Manny einen ENB (Elektrischen-Notiz-Block). Manny nickte wortlos und nahm den ENB aus der Hand. Er stockte kurz. Auf der Hand waren viele kleine rote Spritzer. “Gibt es ein Problem?” fragte der Mann. Manny schüttelte nur den Kopf. “Na dann, weitermachen! Wenn die Verwaltung nicht wie geschmiert läuft, wie sollen dann unsere Truppen an der Front gewinnen!” Manny nickte. Dann war er wieder allein.

Er meldete sich mit den neuen Zugangsdaten an und öffnete die erste der Anfragen. “Anfrage 12/F (Frontversetzung aufgrund emotionaler Ermüdung)” Manny legte seinen ENB bereit und stürzte sich in die Arbeit. Er glich die Anfrage mit den Personaldaten ab, überflog das Gutachten des MedO (medizinisches Offiziers) und bestätigte anschließend die Anfrage. Doch als er seine Zustimmung ins BVS (Bürokratie-Verwaltungs-System) eintragen wollte, bekam er eine Fehlermeldung. “Fehler 12.08 Anfrage nicht aktuell”. Das kam manchmal vor, nicht immer konnte die Zentrale mit den unzähligen Anfragen und Anforderungen fertig werden. Und gerade manche Personalfragen waren aufgrund eines Ablebens des Antragstellers oft davon betroffen. An der Front lebte man manchmal nicht lange, das wusste Manny. Er übernahm die FS-Nummer (Frontsoldaten-Nummer) des Antragstellers und würde gleich im System sämtliche Anfragen mit dieser Nummer als “Nicht dringend” markieren. Das war zwar nicht seine Pflicht, aber vielleicht würde seine Eigeninitiative endlich auffallen und man würde ihn endlich zum BV-GrAb-Leiter (Bürokratie-Großabteilungsleiter) befördern. Doch dann stutzte Manny. Die FS-Nummer stimmte mit der Personalnummer der ehemaligen Sachbearbeiterin überein. Das passte nicht zusammen. Warum sollte er die Anfrage einer Kollegin bearbeiten, deren Versetzung angeblich schon stattgegeben wurde und warum war sie jetzt schon als “Gefallen” im System? Da musste ein Fehler passiert sein. Manny loggte sich ins Archiv ein, vielleicht gab es dort einen Zahlendreher oder so. Das würde es erklären. Er tauchte tief ins Archiv der Datenbank ein. Verglich Nummern mit Anträgen, überprüfte digitale Unterschriften und kam schließlich zur Personalakte seiner, fehlerhaft gefallenen, Vorgängerin in diesem Aktenwirrwarr. Aber die Nummern stimmten, die Einträge waren ebenfalls alle überprüft worden. Sie hatte diesen Antrag gestellt und sie war gefallen. Mannys Hände zitterten leicht, als er die Einträge in ihrer Akte überflog. Ein Satz ließ ihn stoppen. “Ich bin kein Mensch mehr, wir ALLE sind nur mehr Nummern!” Irgendwas ging hier vor sich und Manny wusste, dass es am gescheitesten war, jetzt einfach das Archiv zu schließen und die nächste Anfrage zu bearbeiten. Aber irgendwas ließ ihn nicht mehr los und er tippte seine Personalnummer in das untere Dialogfenster ein. Kurz verdunkelte sein Bildschirm und dann öffnete sich eine Datei. “Geheim-Bericht zum Frontverlauf Nord. Sicherheitsstufe IX” Leicht panisch blickte sich Manny im Büro um, aber keiner beachtete ihn. Dieser Bericht war um mindestens 4 Gehaltsstufen geheimer als alles, was er so zu lesen bekam. “sämtliche Fremdkörper vernichtet, Truppen rücken vor, unter unseren Panzern zerbrechen die Knochen der Fremdbevölkerung!” stand als morbide Unterschrift unter mehreren Bildern. Manny drehte sich um und erreichte gerade noch den MVB (Müll-Verwahrungs-Behälter). Er stand auf und rannte auf die Toilette. Die Gedanken in seinem Kopf drehten sich. Das waren keine fremdartigen Aliens gewesen, die dort tot auf den Bildern abgelichtet waren. Das waren Menschen gewesen. Es waren Erwachsene und Kinder gewesen. Ihm wurde erneut schlecht. War das alles hier eine Lüge? Gegen wen führten sie hier wirklich Krieg? Und was geschah noch alles an der Front, von der hier in der “friedlichen Zone” niemand wirklich viel erfuhr. Er spürte sein MoBV-Gerät in seiner Tasche vibrieren. Der Download war abgeschlossen. Schweiß tropfte von Mannys Stirn auf seine Hand, als er die Datei öffnete. Er wusste selber, dass er jetzt nicht mehr zurück konnte.

Was er dann erfuhr, riss ihm endgültig den Boden unter den Füßen weg. Die Greuel, von denen er las, waren nicht aushaltbar. Aber auch die nachfolgenden Personaldaten zeichneten ein grausames Bild. In den letzten Jahren hat ein gutes Dutzend Menschen davon Wind bekommen und ihr Möglichstes getan, um irgendwas gegen all das zu tun. Die letzte war eine Irene Windler gewesen. Sie alle waren “verschwunden”, “an der Front gefallen” oder “man hatte sich ihrer angenommen”. Minutenlang saß Manny wie erstarrt da, die Gedanken in seinem Kopf schwirrten wild umher und überschlugen sich. Dann nahm er den MoBV-Gerät-Stift und kritzelte seinen Namen unter Irenes.

Er erhob sich und ging an seinen Arbeitsplatz zurück. Sein Blick war starr, fast ausdruckslos, als er die erste Anfrage öffnete. “Anfrage 39/II (Munitionsnachschub für Artillerie)” Manny brauchte nicht lange zu suchen, dann schrieb er darunter “Abgelehnt, Unterschrift des Antragstellers nicht deckungsgleich mit vorherigen Anträgen, Freiwilligkeit nicht 100% feststellbar.” ein grimmiges Lächeln zeichnete sich auf Mannys Lippen. “Anfrage 12/ III / C (Freistellungsanfrage vom Dienst zur Erholung) Abgelehnt, Antragsteller 4 der Gruppenanfrage zeigte in Jugend einen Hang zum übermäßigen Alkoholkonsum, erwarteter Leistungseinbruch” Wie in Ekstase öffnete Manny den nächsten Auftrag. Heute würde keine einzige Patrone Nachschub über seinen Tisch wandern, keine Minute Pause würde auch nur einem der Soldaten an der Front gewährt werden und jeder der darauf hoffte, dass seine Lenkberechtigung auf weiteres Kriegsgerät erweitert wurde, sollte hoffen nicht auch nur einmal eine rote Ampel übersehen zu haben oder gar falsch geparkt zu haben. Das Regime, wie es Manny jetzt in seinem Kopf nannte, hatte seit Jahrzehnten alles an Daten über seine Bürger gesammelt und in dieses riesige Archiv eingespeist und genau dieses Archiv würde Manny jetzt nutzen, um sein Möglichstes zu tun. Irene hatte das Archiv zerstören wollen, aber er würde es nutzen, um noch viel größeren Schaden anzurichten. 

“…Abgelehnt, Vermutung auf Verschwendung oder Missbrauch von Staatsmitteln, sämtliche Offiziere des Bataillons unter Verdacht gestellt, Untersuchung eingeleitet.” schrieb Manny, als er eine tiefe, dominante Stimme hörte. “Die Abteilungsleitung braucht sie.“ Manny blickte auf, sah nur den schwarzen Ledermantel und erhob sich. Hatte er vor ein paar Stunden die Wahrheit erfahren oder vor ein paar Tagen? Manny wusste es nicht mehr. Seitdem hatte er nichts getan, als Sand ins Getriebe zu streuen. Wortlos und bereitwillig folgte er dem Mann und seinem Kollegen. Auf einmal waren sie in einem leeren Gang. Manny wurde zu Boden geschubst. “421 abgelehnte Aufträge, 32 eingeleitete Untersuchungen, 94 Suspendierungen, das ist Sabotage. Sabotage ist Hochverrat! Hochverrat dulden wir nicht!” hörte Manny die Stimme.

Manny dachte an all die verursachte Zermürbung. Er sah sein Lächeln. Tobi hörte einen Knal…

Gudrun, Lederer-Meisterin

Die Glocke läutete. Beim ersten Mal setzte Gudrun noch einmal das scharfe Messer an dem Stück Leder an. Sorgsam fuhr sie die Kreidemarkierung entlang. Die Glocke läutete zum zweiten Mal. Genau dem weißen Strich folgend schnitt die feine Klinge durch das Edle Stück Hirschleder. Das dritte Mal hallte die Glocke durch die engen Gassen und breiten Straßen der kleinen Stadt. Nur keinen Zentimeter des kostbaren Rohstoffes verschwenden, so hatte es Gudrun vor 30 Jahren das erste Mal von ihrem Lehrmeister gehört und so tat sie es auch. Der vierte Glockenschlag erfüllte die ruhige, friedliche Stadt und brach sich an der Stadtmauer. Magistra Krindler würde zufrieden sein mit den neuen Lederstiefeln, dachte sich Gudrun und nahm eine der Ahlen zu Hand. Doch zu mehr als einem Loch zu bohren kam sie nicht. Denn da tönte der fünfte Schlag, der Feierabend verkündende Schlag der Glocke, durch das winzige Butzenglasfenster in ihre kleine Werkstatt. Jetzt würde nur mehr die Arbeitsschürze ausgezogen, einmal schnell Gesicht und Hände in dem kleinen Lavur gewaschen, die Werkstatt versperrt werden und sie würde auf schnellstem Weg in die kleine Wirtschaft machen, wo sie sich die meisten Abende mit den anderen Meistern ihrer Zunft vertrieb. Die Glocke erklang zum sechsten Mal. “Ist es etwa schon so spät? Habe ich das letzte Läuten nicht bemerkt?” fragte sich Gudrun. Ihre Freunde würden schon auf sie warten. Da konnte sie sich wieder dumme Sprüche anhören lassen, heute würden die Scherze also auf ihre Kosten gehen, dachte sie schmunzelnd.

Da läutete die Glocke zum siebten Mal.Gudrun blieb wie angewurzelt stehen, draußen war es doch noch hell, so spät konnte es nicht sein. Zum achten Mal erklang die Glocke. Zum neunten Mal. Da erst realisierte sie die Rufe und die Schreie draußen auf der Lederergasse vor ihrer Werkstatt. Zum zehnten Mal bohrte sich das dumpfe Schlagen der großen Stadtglocke in Gudruns Gehör. Sie ging raus aus dem Haus auf die Gasse und schaute die Häuserschlucht entlang bis zum Hauptplatz, auf dem sie schon mehrere Leute emsig auf und ab laufen sah. Das elfte Mal brannte sich ein. Die Fröhlichkeit der ersten Glockenschläge, die das Ende eines geschäftigen und arbeitsreichen Tages angekündigt hatten, war verflogen, jetzt klang es viel bedrohlicher. Da sah sie Alrik an der Gasse vorbeilaufen, der sonst so lustige fröhliche Bäckergeselle schaute ganz grimmig, auch war er nicht in weiß gekleidet sondern trug ein Lederwams, Gudrun kannte es genau, sie hatte es ihm geschenkt. Die Hände noch mit Mehlstaub und Teigresten verdreckt krallten sich um den langen Stab seines Speeres. 

Das Dutzend vollmachen erschallte die Glocke und riss Gudrun aus der Trance. Das alles konnte nur eines bedeuten, der Krieg hatte sich also doch noch in ihr kleines Tal zu ihrer Stadt verirrt. Lange waren sie verschont geblieben, aber anscheinend sollte sie jetzt doch das Schicksal der anderen Ortschaften ereilen.

Das dreizehnte Läuten war wie ein Startschuss. Jährlich hatten sie es geübt. Im ersten Sommerwochenende war jedes Jahr, das große Gildenschießen gewesen. Jede Gilde und Zunft musste zur Parade aufmarschieren und zeigen, das ihre Mitglieder vom Meister bis zum Lehrling bereit waren die Stadt zu verteidigen. Das war meistens einfach nur ein großes Besäufnis gewesen, aber der Ernstfall war eingedrillt worden. Beim 14 Schlag schlüpfte Gudrun auch schon in ihr bereitliegendes Lederwams und ihre kunstvollen Armschienen, sie hatte es sich nicht nehmen lassen und extra viel Liebe ins Detail gesteckt, schließlich wollte man beim Gildenschießen den Schmieden in nichts nachstehen. Beim fünfzehnten Schlag schnappte sie sich Speer und Dolch. Sie warf noch einen kurzen Blick zurück in ihre kleine Werkstatt, wo sie werkte, schuf und lebte. Doch der sechzehnte Schlag holte sie in die Realität zurück. Mit dem siebzehnten fiel die Tür ins Schloss und Gudrun rannte, sich im Laufen erst die Schnallen schließend, in Richtung Nordtor. Sie betrat den Hauptplatz, als ihr der achtzehnte Schlag das Gehör zerriss. Sie drehte sich um nach der großen goldenen Glocke, die den Stolz und Reichtum ihres Zuhauses zur Schau stellen sollte. Doch die Glocke die dort hängen sollte lag zerbrochen auf dem Turm. Etwas war dort eingeschlagen. Mit Tränen in den Augen sah sie wie diese Meisterstück zerstört auf der ruinenhaften Spitze des Glockenturm lag. Langsam bröckelten die ersten Stücke des Mauerwerks und zerplatzen am Pflaster des Hauptplatzes. Dann ging alles ganz schnell. Die rechte Flanke des Turmes gab nach und gleich darauf stürzte der Turm in sich zusammen. Eine Hand packte sie an der Kapuze und zog sie nach hinten. Sie stolperte, fiel und landete in Armen. Sie drehte sich um. Alrik. Genau in dem Moment schlug ein Trümmerteil ein Loch genau in die Stelle wo sie eben noch stand.

“Wer kümmert sich denn um den Westturm des Tores, wenn du dich schon hier erschlagen lässt?“ “ Als ob auf die anderen Lederer verlass wäre!” sagte er schelmisch grinsend. “M…Mach du dir mal lieber Gedanken um den Ostturm, weil…also ihr Bäcker…ihr seid, ich meine auch schlecht!”

“Also deine Schlagfertigkeit hat nicht unter dem kleinen Unfall hier gelitten, die ist so schlecht wie eh und je!” sagte Alrik lachend und zog Gudrun auf die Beine. Ihr Blick fiel auf sein altes verschlissenes Wams. Sie sah die vielen Schnitte auf ihm. Alrik war nie ein großer Kämpfer gewesen und hatte bei den Gildenschießen oft eine ordentliche Tracht Prügel kassiert. Es war damals ihr Meisterstück gewesen und sie hatte es ihm geschenkt. Ein Zeichen ihrer Freundschaft hatte es sein sollen, aber die gelangweilten Hausfrauen und Männer, die sich den Tag mit nicht als Plausch und Tratsch vertrieben, hatten daraus eine große Liebesgeschichte gesponnen. Die war auch erst nicht mehr Stadtgespräch gewesen, als Alrik endlich geheiratet hatte. Und selbst dann bekam sie noch über Wochen wehleidige Blicke und Mitleidsbekundungen. Dabei hatte sie ja gar nicht heiraten wollen, erst Recht nicht Alrik. Der verrückte Schelm hätte sie nach 2 Wochen zum Ausrasten gebracht. Ein guter Freund allemal, aber als Mann ein absolutes Trauma.

“Gudrun, schwing deinen Arsch hier rauf, du hast Ladedienst an Ballista!” tönte es vom Mauerturm herunter. An der Mauer selber sah sie schon die anderen ihrer Zunft stehen. Die Gesellen in Wams und Schild, neben den Meistern mit ihren teuren und kunstfertig gearbeiteten Rüstungen, dahinter die Lehrlinge mit Bogen und Armbrust. “Das Frühstück morgen geht auf mich!” verabschiedete sich Alrik zuversichtlich grinsend und verschwand im anderen Turm. Hätte sie ihn nicht so gut gekannt hätte sie die Angst in seinen Augen fast nicht erkannt. Sie hetzte die Treppe im Turm hinauf, atemlos erklomm sie die oberste Ebene. An der Balliste standen schon Franzi, die beste Schützin unter ihnen, und Lori, beide fast starr vor Angst. Da erst fiel Gudruns Blick auf die Ebene vor der Stadt und sie tat es den beiden gleich. Hinten wo die frisch geernteten Felder in den Wald überging standen Tausende und Abertausende von gerüsteten Kriegern. Als sie die ganze Linie abgewandert war mit ihrem Blick schätzte sie die Meute auf knappe zehn tausend. Mehr als doppelt so viele wie hinter diesen Mauern lebte. Mehr als viermal so viele wie jetzt bereit standen um ihr kleines ruhiges und beschauliches Leben zu beschützen und zu verteidigen. Vor der Meute stand ein großes metallenes Konstrukt, in Rauch gehüllt. Das musste diese neue Maschinerie sein, von der die fahrenden Händler immer wieder erzählt hatten. “Es ist tatsächlich die Meute des Barons. Ich habe es nicht glauben können, aber er kämpft anscheinend wirklich gegen unseren Herzog.” flüsterte Lori. Gudrun hörte nicht wirklich zu. Die Politik war ihr immer zu blöd gewesene. Sie zahlte ihre Steuern und im Gegenlass wollte sie einfach nur in Ruhe gelassen werden um ihr Leben zu leben. Ihr war egal welches Gesicht gerade auf der Münze zu sehen war, wer sich Baron nennen durfte und wer Herzog. Warum sich diese Leute nie selber prügelten sondern das immer Leute wie Gudrun und ihre Freunde machen mussten, war niemandem bei der Ballista klar. Aber jetzt würden sie es wohl tun müssen. 

Doch für mehr politische Gedanken und Ärgern war keine Zeit, denn die Meute setzte sich in Bewegung. Mehrere Hörner erschallten von dem fremden Heerzug und kurz darauf lief die erste Reihe auch schon auf die Mauer zu. In ihren Händen Leitern und allerlei brutal aussehendes Kriegsgerät. Gudrun starrte noch wie gebannt auf die Menschenwelle, die sich auf ihre Mauer hin ergoss, da spürte sie einen Luftzug und sah im Augenwinkel etwas aufblitzen. Panisch wich sie zur Seite, da schoss der große Pfeil auch schon mit voller Wucht an ihr vorbei. Franzi hatte anscheinend als erstes ihre Fassung zurückgewonnen und den ersten armen Hund ausgesucht, der von ihr unter Beschuss genommen wurde. Wie in Zeitlupe verfolgte Gudrun das Geschoss mit ihrem Blick. Franzi hatte sich für einen großen hühnenhaften Mann in voller Eisenrüstung entschieden, der das vordere Ende einer Leiter hielt und an vorderster Front voran stürmte. Der meterlange Pfeil durchschlug die oberste Leitersprosse und drang unbehindert durch den Brustpanzer in die Schulter des Mannes ein. Der Schmerzensschrei des Ziels ging im Kriegsgeheul seiner Kameraden unter, als sich der Pfeil hinten wieder aus dem Körper bohrte und den Mann wie eine Landkarte auf einer Pinnwand auf dem fruchtbaren Boden vor der Stadt befestigte. Das war also Krieg. Die schiere Brutalität erschreckte Gudrun, doch für Panik und Entsetzen war jetzt keine Zeit. Mit einem lauten Knarzen zogen Franzi und Lori schon die Balliste auf. Jetzt war es an Gudrun am Morden teilzunehmen und die schweren metallenen Pfeile nachzuladen. Auf dass deren zerstörerische Wirkung den Gegner verängstigte oder gar demoralisierte. Der Haken, der das gespannte Seil hielt, lockerte sich erneut und ein weiterer Pfeil surrte todbringend durch die Luft. Doch diesmal riss er mehr als nur einen Angreifer um und verwickelte die beiden in deren eigenen Todeskampf. Inzwischen hatten aber die Ersten die Mauer erreicht und machten sich an die großen massiven Eichenholzleitern gegen die Mauer zu lehnen und sich in die Höhe zu hangeln. Doch am Ende der Leiter warteten schon die Speerspitzen von Gudruns Freunden und schickten die feindlichen Söldner wieder nach unten an den Fuß der Mauer oder direkt in die Hölle.

Minuten später färbte sich das Gras an der Mauer langsam rot und die Schmerzensschreie der Verwundeten nahmen Überhand und erfüllten die Luft. Welle um Welle an Angreifern brandete gegen die hohen Steinmauern und brach sich an den Schwertern der Stadtbewohner und den Pfeilen der Jungen. Draußen vor der Stadt lagen hunderte Tote und nochmal genauso viele Verwundete, die in Agonie schrien und wimmerten. Als sie die Mauer entlang blickte, sah sie ihre Freunde Bekannte noch fast vollzählig da stehen, wenn das so weiterging, dann hatten sie tatsächlich eine Chance. Es überkam sie fast ein wenig Euphorie als sie den letzten der Pfeile schnappte und ihn eingespannte. Ein letztes Mal konnte Franzi noch der ausgedünnten Angriffsfront eine erhebliche Lücke schlagen, wenn der Angriff abgeebbt war, konnte man Nachschub besorgen, von den Türmen die bisher nicht bestürmt worden war. Da wanderte ihr Blick in Richtung Wald, über die vielen Toten und Verletzten und die ganze Pfeile die wie Speere im Boden steckten. Da fiel ihr Blick auf diese Maschine. Sie stand nicht mehr im Rauch, sie war jetzt viel näher. “Warte Franzi, das Ding, schieß auf das Ding!” wollte Gudrun schreien, doch da löste sich schon der Pfeil von der Sehne und schnellte ein letztes Mal übers Schlachtfeld. Wie gebannt starrte Gudrun und ihre Freunde auf den metallenen Schlund, der zum Stillstand gekommen war und auf einmal Feuer spuckte. Ein lauter, donnernder Knall hallte über die Stadt hinweg und verschluckte für einen Moment sämtliche Schmerzensschreie und alles Gebrüll. Es war als wäre für einen Moment wieder Frieden über das kleine Städtchen gekommen. Dann kam der Aufprall.

Die Mauer erzitterte. Eine Druckwelle raubte ihr den Atem und sie verlor das Gleichgewicht und stürzte zu Boden. Ihre Ohren klingelten und ihr Blick war ganz verschwommen. Sie lag da, starrte in den Himmel und spürte, wie eine warme Flüssigkeit ihr übers Gesicht und den Kopf lief. Dann verlor sie endgültig das Bewusstsein. Das nächste was sie sah, war der Sternenhimmel, tiefschwarz sah sie die Unendlichkeit des Universums vor sich liegen und der silbrig kalte Glanz der schimmernden Sterne leuchtete auf sie hinab. Sie griff sich an den dröhnenden Kopf. Als sie sich kratzte bröselte das getrocknete Blut wie Schuppen von ihrer Haut. Sie richtete sich auf. Von dem Turm fehlte die halbe Brüstung und mehr als ein Drittel der Plattform. Langsam robbte sie sich an den Rand. Sie blickte zur Mauer, doch dort wo die Mauer sein sollte, erhob sich nur ein Trümmerfeld. Franzi und Lori lagen dort unten, halb unter der Balliste und dem halben Turm begraben. Seite an Seite mit den anderen Einwohnern der Stadt. An einem größeren Trümmerfeld lehnte einer der Feinde. Seiner Rüstung nach zu urteilen wohl ein Hauptmann oder so. Mit verschränkten Armen beobachtete er die anderen, die in die Stadt gingen oder sie verließen, mit jeder Menge Plündergut. Als eine einfachere Soldatin mit Fackel in der Hand vorüber ging, fiel ihr Blick auf seine Arme. “Diese Armschienen….die kenne ich doch, die habe ich doch erst letzten Monat an die alte Jole, von der Keltererzunft verkauft!” dachte sich Gudrun bevor sie die Übelkeit überkam. Der Anblick ihrer toten Freunde und der Gedanke an ihre geplünderte Heimat gepaart mit den Verletzungen waren einfach zu viel und sie erbrach sich. Ihr fehlte die Kraft um sich noch umzudrehen und konnte nur Stumm das Gefühl ertragen wie sich ihr Mageninhalt über ihren Rumpf ergoss. Doch der Ekel wich schnell einem schlimmeren Gefühl der Einsicht, als sie das rötliche Schimmern von Blut im Licht der Sterne erkannte. Lange würde es wohl nicht dauern, bis sie sich ihren Freunden anschließen würde. Bei jeder Bewegung knarzte und krachte der halbzerstörte Turm unter ihr.

Auf einmal hörte sie unter sich Aufregung. “Macht Platz! Der Baron kommt wieder vorbei.” “Gefällt ihm etwa nicht mehr die Ruine, die wir auf seinem Geheiß erschaffen haben?” sagte die Person in den geraubten Armschienen leicht zynisch. “Was weiß ich? Es ist mir doch egal, was der feine Pinkel möchte, solange er mich bezahlt!” tönte die erste Stimme schon leicht lallend. Da drang das ruhige Stampfen von Pferdehufen, die sich den Weg über die Leichen und den blutgetränkten Straßen der Stadt hinweg bahnten. Gudrun zog sich mit aller Kraft auf die Brüstung, ihre Beine gehorchten ihr nicht und hingen schlaff an ihrer Hüfte. Sie selbst erinnerte sich an das Wild, das sie sonst bei den Gerbern sah, wenn es zum Enthäuten aufgehängt wurde. Der Turm unter ihr schwankte bedrohlich. Viel würde nicht fehlen und auch der Rest des einst stolzen Mauerbaus würde sich dem Trümmerfeld in der Optik anschließen.

Das Pferd hielt bei den unten stehenden Männern. Es war tatsächlich der Baron. Neben ihm stand wohl sein Sohn, denn stolz trug er die selben Wappen wie sein Vater, der auch seine Hand patronisierend auf seiner Schulter ruhen ließ. “Wir haben es tatsächlich geschafft!” tönte die starke Stimme des Barons über die Trümmerhaufen und durch die brennenden Gassen.

“Zwanzig Jahre ist es her. Hier in diesem gottverdammten Kaff wurde ich damals gezwungen niederzuknien. Es war die Glockenweihe und das nachfolgende Turnier, bei dem er mich vor dem gesamten Hofstaat aus dem Sattel hob und arrogant mir die Hand entgegenstreckte um mich noch mehr zu demütigen.” schimpfte der Baron. “Aber diese Schmach haben wir heute gerächt. Wir haben seine Länder verwüstet, seine Städte geschliffen und heute Nacht habe ich auf seine geliebte Glocke gepisst!” lachte er triumphierend. “Bald kniet er vor mir und bettelt um Gnade, dann wird der König mich zum Herzog erheben und du mein Sohn”, er tätschelte dem Knaben die Schulter “wirst unsere Familie zu weiterem Ruhm führen!”

Hätte Gudrun noch Blut im Körper übrig gehabt, es wäre ihr jetzt zu Kopf gestiegen. Eine Niederlage im Turnier? Deswegen brannte ihre Stadt, deswegen lagen die Leichen ihrer Freunde auf den Straßen. “Ich hoffe das Pissen war befriedigend!” brüllte Gudrun mit allem Atem, der noch in ihr steckte. “Du kleine, dreckige, stinkende…” Da gab die letzte Stütze des Turmes endgültig nach und Gudrun stürzte mit dem Rest des Turmes genau auf den Baron hinab. Sie hörte das schmerzvolle Wiehern des edlen Rosses, das ebenso wie sein Reiter von Trümmern geschlagen wurde. Gudrun hörte ihre Knochen brechen, doch das Gefühl hatte längst ihren Körper verlassen. Sie vermochte sich nicht mehr zu bewegen, doch merkte sie, dass sie wohl mit dem Kopf auf der Brust des jungen Adelsspross lag, im Augenwinkel, wo sein zarter Bartflaum sein sollte, sah sie nur einen blutverschmierten Steinbrocken. Ihr Sichtfeld wurde kleiner, die schwarzen Ränder breiter. Da sah sie, wie sich der Baron zu ihr herunterbeugte und sie mit einer Hand am Kragen packte. Sein anderer Arm hing schlaff herab. Er schien irgendwas zu schreien, doch als er erblickte, worauf sie lag, wich die Wut in seinem Gesicht, erst Angst und dann Trauer. Er sank zu Boden, Gudrun immer noch in seiner Hand. “Ich hoffe, das war es dir Wert!” erklang Gudruns Stimme ein letztes Mal auf dieser Welt. Eine erste Träne tropfte von den Wangen des Barons auf die ihren, doch das bekam sie schon nicht mehr mit.