Schlagwort: widerstand

Eddi, Huscarl im Ruhestand

Die salzige Meeresluft, die vom starken Wind bis zu ihnen ins Dorf getragen wurde, brachte auch die Rufe und Schreie mit sich. Einer der Fischer unten an der Küste hatte es als Erstes entdeckt und die Panik in seiner Stimme ließ keinen Zweifel an seiner Nachricht zu. “Segel am Horizont”, obwohl die Worte selber so harmlos waren, wusste jeder im Dorf, was sie bedeuteten. Die letzten Wochen und Monate waren mit den reisenden Händlern auch allerlei Schreckensbotschaften zum Dorf gekommen. Geplünderte Städte, niedergebrannte Abteien, ganze Dörfer ausgerottet, die starken Männer erschlagen, der Rest versklavt. Und jetzt zeigten sich auch an ihrem Horizont vor der Küste zwei gestreifte Segel, die im vollen Wind liegend schnell auf ihre Küste zu fuhren. 

Eddi trat aus dem warmen Grubenhaus hinaus ins Freie und ließ seinen Blick über den wolkenverhangenen Himmel schweifen, während er seinen Mantel schloss. Da entdeckte er die windgefüllten Segel, die sich gegen das dunkelgrau der Wolken abhebten und beständig größer wurden. Die Erinnerungen an die vergangenen Schlachten gegen diese nordischen Bestien ließen sein Gesicht im Grimm erstarren. “Lynn, bring mir mein Kettenhemd und die Axt und sag unseren Kindern, sie sollen alle im Dorf in die Wälder führen, beeilt euch, sie landen gleich!” Wortlos reichte ihm seine Frau das schwere Kettenhemd. Hell blitzend hoben sich die Ringe gegen die anderen leicht rostigen ab, die auf seiner linken Flanke lagen. Schmerzvoll erinnerte sich Eddi an den Speer, der damals durch seine Rüstung und in seinen Bauch gedrungen war. Doch dafür war jetzt keine Zeit. Gerade als er mit seinem Kopf durchgeschlupft war, sah er seinen ältesten Sohn aus dem Haus rennen, in der Hand einen Sack mit den wichtigsten und wertvollsten Sachen. Er schnappte ihn sich und nahm ihm den Beutel aus der Hand. “Hör mir zu Junge!” Seine Hand lag in des Jungen Genick. “Du nimmst mein Pferd und reitest in die Stadt, nimm die Küstenstraße und reite so schnell du kannst! Sag dem Ealdorman, dass es nur zwei Schiffe sind und wenn sie sich beeilen, dann können sie sowohl unser Gehöft als auch die anderen hier retten. Ich werde sie aufhalten solange ich kann! Hast du das verstanden?” “Ja, Vater, aber…!” erklang die zitternde Stimme seines ältesten Sohnes. Er hatte noch nichtmal ein Barthaar am Kinn. “Nichts aber! Du nimmst jetzt mein Pferd und reitest!” Sein Sohn nickte und schluckte schwer. Eddi zog ihn zu sich heran und küsste seine Stirn. Dann ließ er ihn los. “Hätte ich nur früher mit dem Krieger sein aufgehört und mit dem Vater sein angefangen!” dachte Eddi. „Dann müsstest du nicht in so jungen Jahren deinen Vater ersetzen.”

Diese Gedanken wegwischend zog er seinen Gürtel enger und montierte das Gehänge seiner Axt daran. Wortlos nahm er das Schwert aus den Händen seiner Frau. Tapfer versuchte sie ein Lächeln auf ihr angst gezeichnetes Gesicht zu zaubern. “Bitte Eddi, komm mit, wir haben Zeit, lass uns in den Wald fliehen!” erklang ihre Stimme. Diese engelsgleiche Stimme. Seit er sie zum ersten Mal gehört hatte, konnte und wollte er sie nicht vergessen. Mit kalter Stimme, sich zu eigener Härte zwingend erwiderte er: “Wenn sie hier alles niederbrennen, dann überleben wir den Winter nicht und wir alle, unsere Nachbarn, unsere Kinder verhungern oder erfrieren!” Stumm nickend mit Tränen in den Augen wandte sich Lynn ab. Sie ergriff das Bündel, das ihr ältester Sohn zusammengepackt hatte. Wie verloren, ganz alleine stand Eddi da, sein alter Körper niedergedrückt durch das schwere Hemd, aber ungebrochen, sein graues Haar im Wind wehend. Er drehte sich zu Lynn um, die gerade am Zaun angekommen war, der ihr kleines Gehöft umgab. “Lynn!” hallte seine tiefe aber warme Stimme zu ihr. Sie drehte sich um. “Ich…!” setzt er an. “Ich weiß!” entgegnete sie. “Und ich…!” erneut versagte ihm die Stimme. “Ich weiß!” sagte sie lächelnd. Tränen rannen über seine Wangen und flossen die tiefen Falten entlang die sein Leben in seinem Gesicht gezeichnet hatte. “Und….” er schluckte. “Ich…!” Sie schaute ihn an, ebenfalls mit Tränen in den Augen. “Ich dich auch, habe ich immer und werde ich immer!” Einen Augenblick nur badete er in ihrem Blick, weidete er sich an ihrer Schönheit, dann zogen ihn die tiefen, kehligen Stimmen, die vom Strand herauf riefen, wieder in die Realität und er wendete sich ab.

Wie sehr hatte er sich gewünscht, dass er diese Sprache nicht mehr hören musste. “Als erstes brennen und plündern wir den Hof da oben an der Klippe und dann holen wir uns die Feiglinge die in den Wald geflüchtet sind!” hörte er die höhnische siegessichere Stimme des Anführers. Eddi nahm den Schild, der neben ihm an der Wand seines Zuhauses lehnte, und ging auf den Weg zu, der in Richtung Strand führte. Langsamen aber festen Schrittes schritt er der Stimmen entgegen. Er blickte hinab auf den Strand auf dem sich gerade gut 20 dieser Plünderer daran machten den kleinen Aufstieg, der direkt zu ihm führte, hinaufzusteigen. Kaum das der erste von ihnen den Kopf über die Klippenkante streckte, trat ihm Eddi auch schon mit aller Kraft ins Gesicht. “Verpisst euch von hier!” brüllte er mit starkem Akzent in ihrer Sprache ihnen entgegen. Das aufkommende Stimmengewirr und Gebrüll bezeugte den Erfolg seiner Überraschung. Abwartend versteckte sich Eddi hinter seinem Schild, doch als gleich darauf wieder eine Hand erschien, die sich versuchte an einem Büschel Gras festzuhalten um sich über die Klippe zu hieven, ließ Eddi sein Schwert sprechen und tauchte es zum Ersten Mal seit so langer Zeit in rotes Blut. Schmerzensschreie folgten erneut und genaueres konnte Eddi nicht verstehen, aber es schien, als würden sich diese Barbaren nach einem anderen Aufstieg umschauen, so viel hatte er verstanden. “Das gibt mir kostbare Zeit!” dachte er sich triumphierend und trat mit aller Kraft gegen einen der größeren Steine, auf dem er Malereien seiner Kinder entdecken konnte. Mit einem Lächeln im Gesicht sah er wie der Stein über die Kante nach unten kippte und bei den Angreifern wohl endgültig für neue Pläne sorgte. Eddis Blick wanderte die Klippe entlang, den schmalen Streifen, auf dem das Getreide wuchs, auf dem wenig fruchtbaren Ackerland, das sie dieser Ödnis hier abgewinnen konnten. Hier ließ es sich nicht im Überfluss leben, aber dafür waren sie von den Plünderungen verschont geblieben, zumindest bis heute. Er schritt den breiten Weg entlang, den er und seine Familie ausgetreten hatten, seitdem sie sich hier niedergelassen hatten. Der sich vorne aufgabelte und zum Strand als auch zur nächstgrößeren Siedlung führte. Vielleicht hätten sie sich dort niederlassen sollen, die Abgeschiedenheit und Ruhe der letzten Jahre rächte sich jetzt.

Er nahm das Schwert in die Hand, an der er seinen Schild festgebunden hatte, und fuhr mit der Hand durch die Getreideähren. Noch zwei Wochen und sie wären zur Ernte bereit gewesen. Fast liebevoll streichte er über die sattgoldenen, zarten Pflanzen, die seiner Familie Nahrung und ein wenig Wohlstand gaben. Da sah er sie in voller Pracht. Ein gutes dutzend Männer, mit langen geflochtenen Haaren, in kunstvoller Leder und Pelzrüstung. In ihren Händen allerlei Mordsgerät. In erster Reihe schritt ein Hüne von einem Mann, der Oberkörper nackt, eine riesige Axt über seine Schultern gelegt. Einige Meter von Eddi entfernt blieb er stehen. “Du bist alles? Hatten die anderen zu viel Schiss?” sagte er höhnisch, begleitet vom Gelächter seiner Meute. “Für den da hats gereicht!” sage Eddi grinsend und deutete auf einen der Nordischen, dem frisches Blut aus einer zerdrückten Nase floss. 

Der Hüne blickte ihn mit zornigem, irren Blick an. “Ich gebe dir einen Vorsprung, wenn du jetzt wegläufst!” sagte er. Eddi hob nur den Schild vor seine Brust und deutete mit seiner Schwertspitze auf den Mann. Dieser grinste teuflisch und hob die Axt von seiner Schultern, nicht ohne seine Muskeln spielen zu lassen. Mit einem markerschütternden Brüllen ließ er die Axt mit aller Kraft nach unten sausen, als wollte er Eddi wie einen Holzklotz spalten. Der schaffte es gerade noch zur Seite auszuweichen und wollte nun seinerseits mit dem Schwert zum Schlag ausholen, doch noch bevor er nah genug dran war und sein Schwert erhoben hatte trat auch schon sein Gegner mit aller Kraft gegen seinen Schild und Eddi wurde nach hinten gestoßen und landete am Boden.

“Na komm, alter Mann! Das wird doch nicht alles gewesen sein, oder?” lachte ihn dieser Riese aus. Eddi erhob sich, kam mit zitternden Knien wieder zum Stehen. Die vielen Jahre als Soldat, es fühlte sich an als würde er jede kleine Verletzung spüren, die er erlitten hatte, die letzten Jahre als Bauer und dieses Kettenhemd…Wann war er eigentlich so schwach geworden, dass ihn das so ermüdete, hatte er es doch früher wie eine zweite Haut getragen. 

Doch es half alles nichts. Er sammelte all seine Kraft und holte zum Schwung aus und tatsächlich, seine Schwertspitze erreichte sein Gegenüber und schnitt über dessen Brust und Oberarm, doch nicht tief und gerade als Eddi sich über den Triumph freute, sah und spürte er wie ihn die Axt seitlich genau auf den Schild traf. Eddi stürzte zu Boden, er hörte etwas Knacken und Krachen und das war nicht nur sein Schild, der zerbrochen an einem Lederriemen von seinem Arm hing. Es war auch sein Arm, der an wenigen Muskelfasern noch an seiner Schulter hing. Die Schmerzen durften jetzt nicht überhand nehmen, dachte sich Eddi, ließ sein Schwert fallen und stürzte sich auf den Hünen, während er mit seiner intakten Hand den Dolch zog und zum Stoß ansetzte. Doch soweit kam es nicht, denn der Mann packte ihn mit der einen Hand am Hals und mit der anderen Hand an der seinen und drehte den Dolch jetzt gegen Eddi. Langsam spürte Eddi, wie sich die Spitze durch sein Kettenhemd bohrte. 

“Du alter Narr!” brüllte ihm der Anführer dieser Plünderer entgegen. “Hast du wirklich gedacht du kannst mich umbringen? Hast du wirklich geglaubt du überlebst das hier?” Eddis Blick schweifte zur Seite, vorbei an dem wütenden Gesicht, vorbei an seiner Meute hin zu der Stelle wo der Weg in den Wald zum Dorf abbiegt. Und genau dort fiel sein Blick auf eine Gruppe Reiter mit Fußschar die sich auf ihn zubewegte, während sich der Dolch tief zwischen seine Rippen bohrte.  

Eddi grinste während ihm das Blut über die Lippen ran. “Euch hinzuhalten war das Ziel, es zu überleben, wäre reiner Luxus gewesen!”

Mary, Datenverarbeiterin

“Ja natürlich! Kein Problem! Gerne! Nein, das mache ich heute noch, überhaupt kein Problem, Frau Seidler!” Mary knallte den Telefonhörer auf die Aufhängung. Sie blickte auf die Uhr, 5 vor 5, natürlich hatte sie ihre Chefin jetzt noch angerufen und nach den Unterlagen gefragt. Und natürlich würde es ewig dauern, bis alles fertig war. Pünktlich heim gehen, konnte sie sich heute ins Wunschbuch schreiben. Sie drehte den Bildschirm ihres PCs wieder auf und loggte sich wieder ins System ein. 

Zwei Stunden später schaute sie in die Chefetage, doch dort war schon alles dunkel und leer. So wichtig war es also gewesen, dass diese Daten heute noch aufgearbeitet wurden. Mary stopft die Mappe in ihre Tasche und verließ das Bürogebäude und machte sich auf den Heimweg. Ihr Bauch grummelte und sie hüpfte noch schnell ins Bistro ums Eck.

“Der Koch hat leider bei der Bestellung übersehen, dass du Laktosefrei wolltest, ist es trotzdem ok, weil sonst dauert es nochmal 30 Minuten!” sagte der Kellner verlegen lächelnd. Mary lächelte zurück. “Nein, das passt schon!” erwiderte Mary und nahm den Karton und verließ das Lokal. Im Vorbeigehen warf sie den Karton in den Mistkübel und ging die Treppen zu ihrer Wohnung hoch. Sie holte ihr Handy raus und hörte sich die Sprachnachricht an. “Hey Schatz, wegen dem Familienurlaub nächste Woche, es gab da ein Problem…” hörte sie die Stimme ihres Vaters. “Na klar, kein Problem!” tippte Mary noch, während sie aus ihrer Hose stieg und sich aufs Bett fallen ließ. Wenigstens würde morgen kein Wecker läuten, dachte sie noch, bevor ihr die Augen zufielen.

Die Sonne schien ihr ins Gesicht und weckte sie sanft. Sie stand auf und schlurfte ins Bad und nahm unmotiviert ihre Zahnbürste in die Hand. Dann warf sie die Zahnbürste ins Waschbecken und schaute sich ihr Spiegelbild an. “Es ist NICHT OK!” sagte sie. Sie spülte sich das Gesicht mit kaltem klaren Wasser. “UND ES IST VERDAMMT NOCH EINMAL EIN PROBLEM!” wütend schrie sie den Spiegel an. Schwer atmend schaute sie sich tief in die Augen. Sie fühlte Zorn und Wut. Viel zu lange hatte sie alles geschluckt. Doch da tief in ihrer Bauchgegend, da machte sich noch was ganz anderes breit. Sie konnte es noch nicht zuordnen, aber dieses Gesicht im Spiegelbild, es sah nicht mehr so aus, als würde sie es gleich zerfleischen, nein, es lächelte. “ICH MÖCHTE DAS NICHT!” skandierte sie laut. Sie schlüpfte aus ihrem zerknautschten Gewand und stieg unter die Dusche. Es war Freiheit, die sich da in ihr breit machte. Das heiß dampfende Wasser prasselte auf ihre Haut ein und brannte sich über ihre Kopfhaut hinweg. “DAS INTERESSIERT MICH NICHT” rief sie laut immer wieder, bis sich so viel Wasser in ihrem Mund gesammelt hatte und sie sich verschluckte. Hustend stieg sie auf das kleine Handtuch, das vor der Dusche lag und wischte ihre Füße trocken. Sie schnappte sich ihr Handy. “Wenn das so ist, Papa , dann fahre ich alleine weg. Bussi Baba!” tippte sie und klickte auf Senden, dann schaltete sie ihre Musik auf dem Handy ein. Sie tanzte aus dem Bad und öffnete ihren Kleiderschrank und zog sich an. Laut singend tanzte sie zum Fenster und riss es auf. “ES IST MIR WURSCHT!” brüllte sie auf die Straße hinaus.

Mit Kopfhörern in den Ohren rutschte sie das Treppengeländer herunter und verließ das Haus. Sofort bog sie um und steckte den Kopf durch die Bistro-Tür. “ICH NEHME HEUTE EINMAL WIE IMMER, UND DIESMAL LAKTOSEFREI, SONST ESSE ICH ES VOR ORT UND DIE KONSEQUENZEN DARFST DANN DU SAUBER MACHEN!” Verdutzt starrte ihr der Kellner und mehrere Gäste entgegen. Sie grinste freundlich “BUSSI BABA!” rief sie noch, da war sie auch schon zur Tür hinaus und lief weiter die Straße entlang. Es dauerte nicht lang und sie stand vor einem großen Haus. “Familie Seidler” stand in schnörkeliger Gravur in der Steinsäule neben dem Eingangstor. Im Takt der Musik, die ihre Ohren flutete, drückte sie auf den Klingelknopf. Nach einiger Zeit öffnete ihr eine junge Frau. “Die Familie feiert gerade Frau Seidlers Geburtstag, können sie später wieder kommen?” fragte sie. “Ich brauche nicht lange!” sagte Mary und schob sich an ihr vorbei in das Haus. Sie folgte dem Gesang eines Geburtstagsliedes und stand auf einmal vor einer großen Festtafel, an deren Kopf ihre Chefin saß. Gerade war die letzte Strophe verklungen und alle warteten, dass die Kerzen ausgeblasen wurden. Da räusperte sich Mary: „Entschuldigen Sie die Störung, aber ich habe die Akten endlich fertig, die Sie gestern noch so dringend gebraucht haben! Da dachte ich mir, ich bringe sie Ihnen schnell vorbei!” Alle starrten sie überrascht an und folgten Mary, die die Tafel entlang tanzte. Sie verbeugte sich vor Frau Seidler, dann ließ sie die schwere Mappe genau auf die Torte fallen. “Sie mögen ja Tortendiagramme so gerne!” Sie tänzelte zurück zum Eingang und drehte sich nochmal zur sprachlosen Gesellschaft um. “BUSSI BABA!” brüllte sie noch, bevor sie auch schon wieder auf der Straße stand. Mary atmete durch und grinste. Dann zog sie ihr Handy aus der Tasche und googelte “Job Datenverarbeitung”

Manny, Sachbearbeiter

Mit einem ohrenbetäubenden Aufheulen hallte die Sirene durch die Gänge und Hallen. “Bitte bleiben sie ruhig! Folgen sie der Markierung! Verlassen sie geordnet, aber zügig über die Ihnen zugewiesenen Notausgänge das Gebäude!” 

Irene stand auf und richtete ihre Uniformjacke. Zwei Schritte rückwärts und eine Drehung nach links. Schon stand sie in der langen Schlange ihrer Mitarbeiter die sich jetzt zügig auf die große schwere Doppeltür zu bewegte, auf der das große “Notausgang! Nur im Ernstfall benutzen!”-Schild prangte. Hundert grau-schwarze Mützen bewegten sich durch dieses Portal und die Treppen herunter. 

“Das Gebäude wird geräumt! Nehmen sie nicht ihre persönlichen Gegenstand mit!” hallte die blecherne Stimme über die Sirene hinweg. Auch wenn keiner tuschelte oder was sagte, so konnte Irene die Aufregung und Verunsicherung der Massen spüren. Schon war sie die ersten Treppen runter gestiegen, als ihr der kaum wahrnehmbare Geruch von Rauch in die Nase stieg und ihre Mundwinkel leicht nach oben gingen. Sie sah schon die Plattform, auf der sie und ihre Kollegen aufs Durchzählen und die Durchführung des restlichen Protokolls warten würden.

Da spürte sie einen starken Arm, der sich unter ihren Schob. “Die Abteilungsleitung braucht sie!” hörte sie eine dominante Stimme, die keinen Widerspruch duldete. Da sah sie auch auf der anderen Seite eine grimmige Person in schwarzer Uniform. Sie zogen sie aus der Schlange und der Rest bewegte sich weiter. Sie passierten eine Tür und befanden sich auf einmal in einem langen leeren Gang. Der Griff um ihre Arme wurde stärker. Sie hoben sie einfach hoch und schleiften sie über den gebohnerten Boden. Nach einigen Metern warfen sie Irene zu Boden.

“Sabotage ist Hochverrat! Hochverrat wird nicht geduldet!” hörte sie noch einmal die kräftige Stimme. Stumm kniete Irene auf dem Boden und blickte in ihr triumphierend lächelndes Gesicht. Sie würde sich nicht die Blöße geben und um ihr Leben zu betteln, sie wusste, dass das keinen Sinn hatte. Dafür hatte sie zu viele Berichte gelesen, Anfragen abgestempelt und Dokumente archiviert. Sie würde sich stark und ungebrochen in die lange Liste der Opfer dieses Regimes einreihen. 

Sie roch den Rauch, sie sah ein Lächeln, Manny hörte einen Knall.

Manny war als einer der ersten auf der Plattform angekommen, war zu seinem Brandschutzgruppenbeauftragten gegangen und hatte seine Dienstnummer angegeben, dann hatte er sein MoBV-Gerät (Mobiles-Bürokratie-Verwaltungs-Gerät) herausgenommen und sich wieder dem Antrag 27/III (Nachschubanfrage für Feld-Behelfsmittel) gewidmet und hatte es auf Korrektheit überprüft. “Stattgegeben, Unterschrift des KpGru-Kom (Kampf-Gruppenkommandant) aus Anfrage 27/II übernommen” schrieb er gerade unter das Dokument als ein Knall ihn aufblicken lies. Ein Mann in weißer Uniform schritt gerade aus dem Gebäude und sprach in ein Megaphon. “Wir gratulieren zum erfolgreichen Bestehen der Feuer-Alarmprobe mit simulierter Rauchentwicklung. Die Evakuierungszeit war um 4,7 Sekunden schneller als bei der letzten Überprüfung und liegt um 6,2 Prozent unter dem staatsweiten Durchschnitt! Kehren sie jetzt zu ihrer Arbeit zurück!”

Der erste auf der Plattform ist der letzte wieder im Büro. Manny kannte das Prozedere, in den 52 Jahren seiner Dienstzeit hatte er das alles schon exakt 155 mal durchgemacht, nur vor 12 Jahren hatte ihn ein 2-tägiger Krankenstand von der angekündigten Probe ferngehalten. Als Manny wieder das Büro betrat, waren alle anderen Plätze schon besetzt. Nur einer war leer. Manny nahm auf seinem Stuhl Platz und entsperrte sein BV-Gerät (Bürokratie-Verwaltungsgerät) und synchronisierte es mit seinem MoBV-Gerät. “Sie übernehmen die Aufgaben ihrer Kollegin, ihr Versetzungsantrag zur Front wurde stattgegeben” hörte Manny auf einmal eine kräftige Stimme. “Hier sind die Zugangsdaten! Nötige Überstunden sind bewilligt!” fuhr der Mann in schwarzer Uniform fort und reichte Manny einen ENB (Elektrischen-Notiz-Block). Manny nickte wortlos und nahm den ENB aus der Hand. Er stockte kurz. Auf der Hand waren viele kleine rote Spritzer. “Gibt es ein Problem?” fragte der Mann. Manny schüttelte nur den Kopf. “Na dann, weitermachen! Wenn die Verwaltung nicht wie geschmiert läuft, wie sollen dann unsere Truppen an der Front gewinnen!” Manny nickte. Dann war er wieder allein.

Er meldete sich mit den neuen Zugangsdaten an und öffnete die erste der Anfragen. “Anfrage 12/F (Frontversetzung aufgrund emotionaler Ermüdung)” Manny legte seinen ENB bereit und stürzte sich in die Arbeit. Er glich die Anfrage mit den Personaldaten ab, überflog das Gutachten des MedO (medizinisches Offiziers) und bestätigte anschließend die Anfrage. Doch als er seine Zustimmung ins BVS (Bürokratie-Verwaltungs-System) eintragen wollte, bekam er eine Fehlermeldung. “Fehler 12.08 Anfrage nicht aktuell”. Das kam manchmal vor, nicht immer konnte die Zentrale mit den unzähligen Anfragen und Anforderungen fertig werden. Und gerade manche Personalfragen waren aufgrund eines Ablebens des Antragstellers oft davon betroffen. An der Front lebte man manchmal nicht lange, das wusste Manny. Er übernahm die FS-Nummer (Frontsoldaten-Nummer) des Antragstellers und würde gleich im System sämtliche Anfragen mit dieser Nummer als “Nicht dringend” markieren. Das war zwar nicht seine Pflicht, aber vielleicht würde seine Eigeninitiative endlich auffallen und man würde ihn endlich zum BV-GrAb-Leiter (Bürokratie-Großabteilungsleiter) befördern. Doch dann stutzte Manny. Die FS-Nummer stimmte mit der Personalnummer der ehemaligen Sachbearbeiterin überein. Das passte nicht zusammen. Warum sollte er die Anfrage einer Kollegin bearbeiten, deren Versetzung angeblich schon stattgegeben wurde und warum war sie jetzt schon als “Gefallen” im System? Da musste ein Fehler passiert sein. Manny loggte sich ins Archiv ein, vielleicht gab es dort einen Zahlendreher oder so. Das würde es erklären. Er tauchte tief ins Archiv der Datenbank ein. Verglich Nummern mit Anträgen, überprüfte digitale Unterschriften und kam schließlich zur Personalakte seiner, fehlerhaft gefallenen, Vorgängerin in diesem Aktenwirrwarr. Aber die Nummern stimmten, die Einträge waren ebenfalls alle überprüft worden. Sie hatte diesen Antrag gestellt und sie war gefallen. Mannys Hände zitterten leicht, als er die Einträge in ihrer Akte überflog. Ein Satz ließ ihn stoppen. “Ich bin kein Mensch mehr, wir ALLE sind nur mehr Nummern!” Irgendwas ging hier vor sich und Manny wusste, dass es am gescheitesten war, jetzt einfach das Archiv zu schließen und die nächste Anfrage zu bearbeiten. Aber irgendwas ließ ihn nicht mehr los und er tippte seine Personalnummer in das untere Dialogfenster ein. Kurz verdunkelte sein Bildschirm und dann öffnete sich eine Datei. “Geheim-Bericht zum Frontverlauf Nord. Sicherheitsstufe IX” Leicht panisch blickte sich Manny im Büro um, aber keiner beachtete ihn. Dieser Bericht war um mindestens 4 Gehaltsstufen geheimer als alles, was er so zu lesen bekam. “sämtliche Fremdkörper vernichtet, Truppen rücken vor, unter unseren Panzern zerbrechen die Knochen der Fremdbevölkerung!” stand als morbide Unterschrift unter mehreren Bildern. Manny drehte sich um und erreichte gerade noch den MVB (Müll-Verwahrungs-Behälter). Er stand auf und rannte auf die Toilette. Die Gedanken in seinem Kopf drehten sich. Das waren keine fremdartigen Aliens gewesen, die dort tot auf den Bildern abgelichtet waren. Das waren Menschen gewesen. Es waren Erwachsene und Kinder gewesen. Ihm wurde erneut schlecht. War das alles hier eine Lüge? Gegen wen führten sie hier wirklich Krieg? Und was geschah noch alles an der Front, von der hier in der “friedlichen Zone” niemand wirklich viel erfuhr. Er spürte sein MoBV-Gerät in seiner Tasche vibrieren. Der Download war abgeschlossen. Schweiß tropfte von Mannys Stirn auf seine Hand, als er die Datei öffnete. Er wusste selber, dass er jetzt nicht mehr zurück konnte.

Was er dann erfuhr, riss ihm endgültig den Boden unter den Füßen weg. Die Greuel, von denen er las, waren nicht aushaltbar. Aber auch die nachfolgenden Personaldaten zeichneten ein grausames Bild. In den letzten Jahren hat ein gutes Dutzend Menschen davon Wind bekommen und ihr Möglichstes getan, um irgendwas gegen all das zu tun. Die letzte war eine Irene Windler gewesen. Sie alle waren “verschwunden”, “an der Front gefallen” oder “man hatte sich ihrer angenommen”. Minutenlang saß Manny wie erstarrt da, die Gedanken in seinem Kopf schwirrten wild umher und überschlugen sich. Dann nahm er den MoBV-Gerät-Stift und kritzelte seinen Namen unter Irenes.

Er erhob sich und ging an seinen Arbeitsplatz zurück. Sein Blick war starr, fast ausdruckslos, als er die erste Anfrage öffnete. “Anfrage 39/II (Munitionsnachschub für Artillerie)” Manny brauchte nicht lange zu suchen, dann schrieb er darunter “Abgelehnt, Unterschrift des Antragstellers nicht deckungsgleich mit vorherigen Anträgen, Freiwilligkeit nicht 100% feststellbar.” ein grimmiges Lächeln zeichnete sich auf Mannys Lippen. “Anfrage 12/ III / C (Freistellungsanfrage vom Dienst zur Erholung) Abgelehnt, Antragsteller 4 der Gruppenanfrage zeigte in Jugend einen Hang zum übermäßigen Alkoholkonsum, erwarteter Leistungseinbruch” Wie in Ekstase öffnete Manny den nächsten Auftrag. Heute würde keine einzige Patrone Nachschub über seinen Tisch wandern, keine Minute Pause würde auch nur einem der Soldaten an der Front gewährt werden und jeder der darauf hoffte, dass seine Lenkberechtigung auf weiteres Kriegsgerät erweitert wurde, sollte hoffen nicht auch nur einmal eine rote Ampel übersehen zu haben oder gar falsch geparkt zu haben. Das Regime, wie es Manny jetzt in seinem Kopf nannte, hatte seit Jahrzehnten alles an Daten über seine Bürger gesammelt und in dieses riesige Archiv eingespeist und genau dieses Archiv würde Manny jetzt nutzen, um sein Möglichstes zu tun. Irene hatte das Archiv zerstören wollen, aber er würde es nutzen, um noch viel größeren Schaden anzurichten. 

“…Abgelehnt, Vermutung auf Verschwendung oder Missbrauch von Staatsmitteln, sämtliche Offiziere des Bataillons unter Verdacht gestellt, Untersuchung eingeleitet.” schrieb Manny, als er eine tiefe, dominante Stimme hörte. “Die Abteilungsleitung braucht sie.“ Manny blickte auf, sah nur den schwarzen Ledermantel und erhob sich. Hatte er vor ein paar Stunden die Wahrheit erfahren oder vor ein paar Tagen? Manny wusste es nicht mehr. Seitdem hatte er nichts getan, als Sand ins Getriebe zu streuen. Wortlos und bereitwillig folgte er dem Mann und seinem Kollegen. Auf einmal waren sie in einem leeren Gang. Manny wurde zu Boden geschubst. “421 abgelehnte Aufträge, 32 eingeleitete Untersuchungen, 94 Suspendierungen, das ist Sabotage. Sabotage ist Hochverrat! Hochverrat dulden wir nicht!” hörte Manny die Stimme.

Manny dachte an all die verursachte Zermürbung. Er sah sein Lächeln. Tobi hörte einen Knal…