Mit einem hellen Klingen zerplatzte der Regentropfen auf Jean-Baptistes Helmkante und spritzte in Richtung Boden, wo er sich mit der Suppe verband, die sich in den letzten Stunden zu seinen Füßen gebildet hatte. Braun und matschig war sie zuerst nur einige Zentimeter hoch gewesen, aber jetzt schwappte sie mit jedem vorbei eilenden Kameraden noch ein Stück höher und umspielte schon seine Unterschenkel. Es war vielleicht erst wenige Minuten her gewesen, vielleicht auch schon eine Stunde, als die ersten Tropfen bei seinen Knöcheln eine Schwachstelle in seinen Stiefeln gefunden hatten und sich einen Weg zu seinen Socken gebahnt hatten. Seine Zehen waren inzwischen eiskalt und er spürte, wie aufgequollen seine Haut inzwischen war, wenn er sie aneinander rieb. Sein müder Blick starrte in diese kalte, nasse Brühe, als könnte er darin einen Sinn für das alles erkennen. Aber er fand keinen. Eine Erschütterung erfasste ihn und zauberte kleine verspielte Wellen auf dem Wasser. Schwer hob er seinen Blick und sah über die Erdkante drüber, die sich vor ihm erhob, als ihm auch schon die ersten Erdklumpen entgegen prasselten. Er hörte noch das Pfeifen, das sie in den Unterstand treiben sollte, aber er konnte einfach nicht mehr, und eigentlich wollte er auch nicht mehr.
“Das ist unfair, immer fängst du mich, das sage ich Mama!” Jean-Baptiste wurde aus seinen Gedanken gerissen. Die frühsommerliche Luft füllte seine Lungen, als er tief einatmete und die Erinnerungen abschüttelte. Vor ihm liefen mehrere Kinder in dem kleinen Park umher, in dem er sich gerne ein wenig niederließ und sich erholte, wenn er es so weit schaffte. Mit einem traurigen Lächeln sah er der Rasselbande beim Fangen spielen zu, die sich jedesmal so schnell wieder vertrugen, wie sie sich in die Haare kriegten. Die warme Sonne schien ihm ins Gesicht, das wäre einer dieser Momente, an dem die Zeit stehen bleiben würde, sämtliche Lasten würden für einige Augenblicke von seinen Schultern fallen und er wäre einige Atemzüge einfach nur glücklich. Aber etwas fesselte ihn im Hier und Jetzt. Jean-Baptiste spürte dieses etwas nur allzu gut. Der stechende Schmerz in seinen Beinen ließ sich nicht von Kinderlachen, nicht von Sonnenschein und auch nicht von frühsommerlicher Luft vertreiben. Der ließ sich von gar nichts vertreiben. Seit er und der Schmerz sich an diesem verregneten Tag in den Gräben der Somme gefunden hatten, seitdem war er sein ständiger Begleiter gewesen. Er war sein Begleiter gewesen, als er Etienne im Stacheldraht hinter sich lassen musste. Als er Marc hustend und spuckend an ein kleines Loch in der Gasmaske verloren hatte, war er bei ihm gewesen. Der Schmerz war immer da. Bereitwillig und schnell füllte er jede Lücke, die dieser Krieg in Jean-Baptistes Leben gerissen hatte. Und als die Granate sein Bein zerriss, als es keine Nerven mehr gab, die hätten schmerzen können, als das Fleisch nur mehr tot an seinen zersplitterten Knochen hing, auch da ließ ihn der Schmerz nicht allein. Jean blickte auf, die große Uhr am Parkrand zeigte 5 Uhr. Er strich sich über seinen Oberschenkel und griff sich seine Krücken. Mit verbissenen Gesicht hievte er sich hoch und humpelte langsam auf den Ausgang des Parks zu.
Da rempelte ihn von hinten etwas an und er stürzte. Sein Schmerzensschrei erfüllte den Park und scheuchte die Singvögel auf, die gerade um ein paar Brotkrumen stritten.
“Mo…Monsier..Es….es tut mir leid?” hörte er die ängstliche Stimme eines kleinen Mädchen in seinem Rücken. Mit der Kraft seiner Arme drehte sich Jean-Baptiste um und blickte in ein Gesicht, in dessen Augen schon das Wasser stand. “Bitte verzeiht, ich wollte das nicht!” setzte das Mädchen noch an, als auch schon die ersten Tränen die Wangen hinunterflossen. Jean hob sein verdrehtes Bein und richtete es. Dann strich er dem Mädchen tröstend über die Schulter. “Das ist doch kein Grund zum Weinen. Wenn man so schön und lustig mit seinen Freunden spielt, dann kann sowas doch schon mal passieren!” sagte er ruhig und griff nach seiner Krücke. “Du spielst ja hier oft mit deinen Freunden fangen, oder?” fragte er so fröhlich wie es das Stechen und Brennen in seinen Beinen zuließ. Das Mädchen nickte schniefend. “Ich würde ja auch gerne mal wieder fangen spielen, aber ich glaube bei euch habe ich keine Chance!” Das Mädchen musste lächeln. “Na schau, schon lächelst du schon wieder, wie die Sonne heute, hilfst du mir auf?” Das Mädchen nickte und zog mit aller Kraft an Jean-Baptistes Arm. Als er wieder stand griff er wieder in seine Tasche und holte zwei Münzen hervor. “Na dann solltest du mal los zu deinen Freunden und holt euch davon ein paar Bonbons, aber teile sie mit deinen Freunden, denn nichts ist wichtiger als gute Freunde.” “Danke Monsieur, habt ihr auch Freunde, mit denen ihr Bonbons teilt?” fragte das Mädchen neugierig. “Ja, einen Freund habe ich!” sagte Jean und drehte sich um. “Trefft ihr den auch jeden Tag?” rief ihm das kleine Mädchen noch hinterher. “Ja, jeden Tag!” sagte Jean-Baptiste leicht melancholisch.
Jean kämpfte sich die Treppen nach oben in sein kleines Apartment. Er setzte sich an den wackeligen Tisch und zog eine kleine Holzkiste zu sich. Er öffnete sie und holte den Orden heraus, der ihm verliehen worden war, nach seiner Verwundung. Wie gerne würde er dieses Stück Blech gegen ein paar Minuten ohne Schmerzen tauschen. “Wir sind wohl für immer aneinander gebunden!” sagte Jean fatalistisch grinsend und holte ein Foto heraus, das ihn und seine Kameraden an dem Tag zeigte, als sie das erste Mal in die neuen Uniformen gesteckt worden waren. Auf der Rückseite waren allzu viele Kreuze und Daten geschrieben. Jetzt war es seine Wange, von der die Tränen tropften. Er holte ein weiteres Foto raus. Sanft strich er mit dem Daumen über die Wange der darauf abgelichteten Dame. Direkt daneben lag ein Brief. Viele der Wörter waren schon verlaufen, es waren nicht die ersten Tränen, die wohl dieses Papier trafen. “…es hat leider nicht sein sollen….du wirst trotzdem immer einen besonderen Platz in meinen Erinnerungen haben…”. Jeans zittrige Hand griff erneut in die Holzkiste. “Bring den Boche Manieren bei!” seine Finger glitten über den Schriftzug, den sein Vater in den Griff des Revolvers geschnitzt hatte, bevor er damals aufgebrochen war. Sein Blick fiel auf den Orden. “Folgst du mir auch dorthin?”
Ganz besonders berührend!
V
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Danke schön. Es freut mich, wenn meine Geschichten in Erinnerung bleiben.
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